Getsafe-Gründer Christian Wiens. BIld: PR

Beschwerden und Verluste: Ist Getsafes Wachstumsstory auserzählt?

Exklusiv: Beim Heidelberger Digitalversicherer gerät die vollmundig angekündigte Europa-Expansion ins Stocken. In zwei Ländern wurde der Vertrieb gestoppt, wichtige Manager haben das Startup verlassen. Hat sich der Gründer beim Wachstum verkalkuliert?

Als Getsafe im Januar vergangenen Jahres nach Frankreich expandierte, geriet Gründer Christian Wiens ins Schwärmen: Er sei „außer sich vor Freude“, schrieb er bei Linkedin in englischer Sprache. Darüber, wie seine Vision von Getsafe als „Versicherer Nummer eins für eine neue Generation an Kunden in Europa“ zur Realität werde.

Den Beitrag garnierte Wiens mit einem Zahlenfeuerwerk: Das Versicherungs-Startup aus Heidelberg habe die Marke von 500.000 Kunden überschritten, den vierten Markt erobert und seinen Umsatz auf Jahressicht verfünffacht. Wiens’ Message schien unmissverständlich: Getsafe – ein europäischer Champion im Wachstumsmodus.

Rückblickend wohl ein voreiliges Posting. Weitgehend unbeachtet hat Wiens seine Expansionsoffensive schon wieder zurückgefahren, wichtige Manager haben die Firma zwischenzeitlich verlassen. Und: Auf Bewertungsportalen häufen sich die Beschwerden. Hat sich das Insurtech – in das bislang mehr als 120 Millionen Euro von Investoren wie Earlybird und CommerzVentures geflossen sind – mit dem Wachstum übernommen?

Vertriebsstopp in Frankreich

Die Probleme deuten sich zuallererst auf der französischen Website des Startups an. Dort informiert Getsafe Kunden seit einigen Wochen über den Vertriebsstopp seiner Policen. „Wir haben den Abschluss neuer Hausrat-Versicherungsprodukte in Frankreich ausgesetzt. Wir entschuldigen uns für diese Unannehmlichkeiten“, heißt es lapidar.

Getsafe bietet unter anderem Hausrat-, Gebäude- und Haftpflichtversicherungen, im Fokus stehen besonders jüngere Kunden. Dafür setzt das Startup nicht auf traditionelle Maklerbüros, sondern den Direktvertrieb. Die Kommunikation läuft über eine eigene Versicherungs-App. In Frankreich bot Getsafe bislang lediglich eine Hausratspolice an.

Das Land gilt für das Startup eigentlich als Hoffnungsmarkt. Es gehört noch vor Deutschland zu den größten Versicherungsmärkten weltweit. Dazu schien das Momentum zuletzt auf Seiten der Heidelberger zu liegen. Als beim französischen Wettbewerber Luko vergangenes Jahr das Geld knapp wurde, übernahm Getsafe dessen deutschen Kundenstamm. Der Vertriebsstopp in Frankreich kommt also durchaus überraschend.

Von einem Rückzug will das Unternehmen auf Nachfrage von Finance Forward indes nicht sprechen. „Wir haben uns nicht aus dem französischen Markt zurückgezogen und haben es auch nicht vor“, beschwichtigt eine Sprecherin. Frankreich spiele für Getsafe weiter eine zentrale Rolle, das Unternehmen befinde sich lediglich in einer Entwicklungsphase. „Wir sind gerade dabei, unser Produktportfolio mit dem gewonnenen Marktfeedback zu iterieren und neu aufzustellen.“ Dennoch: „Das bedeutet in der Tat, dass wir das alte Produkt temporär für einen Zeitraum von ein paar Monaten nicht anbieten.“

Britische Firmentochter verkauft

Nicht der einzige Auslandsmarkt mit Widerständen. Auch in Großbritannien, wo Getsafe schon 2020 gestartet ist, lief es zuletzt nicht nach Plan. Im März reichte Gründer Christian Wiens seine britische Firmentochter an einen lokalen Wettbewerber weiter. Angeblich, weil Lizenzauflagen einen Weiterbetrieb unwirtschaftlich gemacht hätten.

Den Grund sieht das Versicherungs-Startup im Brexit: Weil ein Abkommen zwischen Großbritannien und der EU „anders als erwartet“ nicht umgesetzt worden sei, habe Getsafe seine vorhandene Lizenz nicht länger in Großbritannien nutzen können. Es sei eine zweite Lizenz notwendig gewesen, so eine Sprecherin. „Ein solches regulatorisches Setup ist jedoch nicht skalierbar. Daher haben wir die strategische Entscheidung getroffen, uns auf EU-Märkte zu fokussieren.“ Für Getsafe ein durchaus schmerzhafter Schritt – agierte das Startup in Großbritannien nach Wiens’ Angaben doch zuletzt profitabel.

Damit ist Getsafe neben dem Heimatmarkt Deutschland derzeit nur noch in Österreich aktiv. Lizenzen für die Märkte in Italien, Belgien, Polen und den Niederlanden liegen dem Startup zwar vor. In den Ländern gestartet ist Getsafe bislang jedoch nicht. Dies wird vorerst wohl auch nicht passieren. Vom Unternehmen heißt es, man wolle die europäische Expansion erst im nächsten Jahr fortsetzen. Wo genau, stehe noch nicht fest.

Auch personell gibt es offene Fragen: Alexander Grimm, langjähriger Chief Operation Officer und hauptverantwortlich für die Expansion, schied vergangenes Jahr aus dem Unternehmen aus. Ebenso Björn Portner, Grimms Protegé und zuletzt „Group Vice President Global Markets“ bei Getsafe. Er heuerte im Januar beim Wettbewerber Enzo an. Und Produktchef Adrian Pica, erst Ende 2022 vom Taxi-Unicorn Bolt geholt und mit einer Pressemitteilung bedacht, hat ebenfalls einen neuen Arbeitgeber. Nachbesetzt ist mit Ausnahme einer neuen Führungskraft für die Produktsparte bislang keiner der Posten.

Getsafe hält sich für profitabel – macht aber Verluste

Gut aufgestellt sieht sich das Unternehmen dennoch. Das Wachstum sei intakt, vor allem in Deutschland. „Durch die Zukäufe von Luko Deutschland und deineStudienfinanzierung konnten wir über 250.000 neue Kunden begrüßen“, heißt es. Die Einnahmen durch Versichertenbeiträge seien im vergangenen Jahr zudem „signifikant“ gestiegen, ebenso das Ergebnis auf Firmenebene. Dies mache Getsafe nicht nur zum „schnellstwachsenden, sondern auch zum profitabelsten Insurtech in Deutschland“, so eine Sprecherin.

Ein eigenwilliges Verständnis von Profitabilität , schaut man in einen aktuellen Finanzbericht. Dort weist Getsafe für 2023 einen Verlust von rund 1,4 Millionen Euro aus. Einen Widerspruch sieht das Unternehmen darin nicht. „Der Fehlbetrag war unseres Wissens nach kleiner als bei vergleichbaren deutschen Insurtechs, was uns relativ gesehen profitabler macht als diese“, heißt es.

Immerhin seinen Umsatz konnte das Startup tatsächlich steigern. Dem Finanzbericht zufolge nahm Getsafe in 2023 rund 21 Millionen Euro durch Versichertenbeiträge ein, mehr als dreimal so viel wie im Vorjahr. Das Unternehmen betont zwar, größtenteils aus eigener Kraft – also durch den bestehenden Kundenstamm – gewachsen zu sein. Der starke Anstieg bei den Beiträgen dürfte aber auch auf Zukäufe zurückzuführen sein.

„Unnormal lange Bearbeitungszeit“

Eine Strategie nicht ohne Nebenwirkungen, wie sich nun im Netz zeigt. Auf Bewertungsportalen wie Trustpilot und Google häufen sich die Beschwerden. Kunden klagen über lange Bearbeitungszeiten bei Schadensfällen. „Katastrophaler Kundenservice & unnormal lange Bearbeitungszeit”, moniert eine Kundin. „Schaden im Oktober gemeldet, abgeschlossen wurde dieser Mitte April – ganze 4,5 Monate später“. Ein anderer verweist auf die Operation seines Hundes, die bereits im Dezember stattgefunden habe. „Seitdem versuche ich, die Arztkosten vergeblich von der Tierversicherung erstattet zu bekommen.“

Auf Nachfrage bestätigte das Startup die Beschwerden, sieht diese aber „größtenteils“ als behoben an. „Nach Übernahme eines größeren Versicherungsportfolios ist es in den letzten Quartalen zu einem Peak an Schadensmeldungen gekommen“, erklärt das Unternehmen die Probleme. Inzwischen sei der Rückstau „weitestgehend“ abgearbeitet.

Zum Glück, müsste man meinen. Bis die Wachstumsfantasien von Gründer Christian Wiens Realität werden, hat das Startup noch ganz andere Probleme zu lösen.