Auftakt im Wirecard-Prozess: Der erste Tag im Superbunker
Unter der Erde von München beginnt der spektakuläre Strafprozess gegen Ex-Wirecard-Chef Markus Braun. Schon der Auftakt lässt erahnen, wie zäh das Mammutverfahren wird.
Der Mann, um den es in den nächsten 100 Tagen hier vor allem gehen wird, kommt ganz unauffällig in den Gerichtssaal. Keine Justizbeamten, die ihn einrahmen, keine Handschellen, stattdessen Laptop unter dem Arm, federnder Gang. Etwas schmaler ist er geworden, sonst sieht Markus Braun fast so aus wie früher – als würde er gleich eine Bilanz-Pressekonferenz abhalten, auf die die ganzen Fotografen und Kamerateams warten.
Doch an die Zeiten, in denen Aktionäre, Analysten und Journalisten an seinen Lippen hingen und ihn manche als Visionär feierten, erinnert nur noch Brauns dunkelblauer Rollkragenpulli unter dem Sakko, jahrelang das Markenzeichen des Steve-Jobs-Klons aus dem Münchner Vorort Aschheim. Heute kommt der langjährige Wirecard-Chef als Angeklagter. Und in dem bombensicheren Saal fünf Meter unter der Erde, der vor einigen Jahren für 17 Millionen Euro gebaut worden ist, beginnt an diesem Donnerstag kein gewöhnlicher Termin – sondern ein Verfahren, das das Zeug hat, zum spektakulärsten Strafprozess in der deutschen Wirtschaftsgeschichte zu werden. Zu einem der aufwändigsten sowieso.
Die entscheidende Frage: Was wusste Braun?
Seit fast zweieinhalb Jahren sitzt Braun in Untersuchungshaft, für den Prozess wurde er aus seiner Einzelzelle in Gablingen bei Augsburg nach München-Stadelheim verlegt. Aus der Haftanstalt, in der einst die Geschwister Scholl und NSU-Terroristin Beate Zschäpe einsaßen, führt ein unterirdischer Gang in den Saal, in dem über die entscheidende Frage verhandelt wird: Was wusste der Vorstandschef von dem groß angelegten Betrugssystem, das Kreditgebern und Anlegern sagenhafte Milliardengewinne mit angeblichen Geschäften in Asien vorgaukelte – und das Wirecard dabei half, einen Börsenwert von zeitweise mehr als 20 Milliarden Euro erst zu erschaffen und dann wieder zu vernichten?
Nichts, sagen Brauns Anwälte um den bulligen Strafverteidiger Alfred Dierlamm, der mit Robe und zurückgegelten Haaren auf der weiß lackierten Anklagebank neben seinem Mandanten sitzt. Braun sei selbst betrogen worden, von einer Bande um seinen früheren Vorstandskollegen Jan Marsalek, der sich nach dem Crash im Juni 2020 abgesetzt hat, womöglich nach Russland.
Alles, ist die Staatsanwaltschaft München I überzeugt, die nach komplizierten Ermittlungen eine 474 Seiten dicke Anklage zu Papier gebracht hat. Darin wirft sie Braun unter anderem gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Marktmanipulation und Untreue vor. Im Fall eines Schuldspruchs drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft.
Noch bevor Födisch den Staatsanwälten das Wort erteilt, um die Anklageschrift zu verlesen, melden sich Brauns Verteidiger. Sie wollen prüfen lassen, ob einzelne Richter oder Schöffen befangen sein könnten. Warum, bleibt unklar – das Gericht entscheidet, dass der Antrag erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt werden darf.
Auch der Versuch eines Verteidigers des mitangeklagten Stephan von Erffa, jahrelang Chefbuchhalter von Wirecard, der nach Ansicht der Staatsanwaltschaft in das Betrugssystem mithilfe sogenannter Drittpartner verwickelt gewesen sein soll, wird abgewiesen. Er wollte wissen, ob Richter oder Schöffen früher selbst mit Wirecard-Aktien gehandelt haben – so wie viele Mitarbeiter bei der Finanzaufsicht Bafin oder der damalige Chef der Wirtschaftsprüferaufsicht APAS, zwei Behörden, die am jahrelangen Versagen aller staatlichen Institutionen bei Wirecard maßgeblich beteiligt waren. Auch dieser Antrag wird vom Gericht zunächst zurückgestellt. Später kommt heraus, dass die Verteidiger eine „dienstliche Erklärung“ der Richter und Schöffen dazu verlangen, ob sie selbst Wirecard-Aktionäre waren – Entscheidung dazu folgt.
Um 11 Uhr erst auf Seite 19
Dann, um kurz nach zehn, darf Staatsanwalt Matthias Bühring damit beginnen, die Anklage vorzutragen. Es folgt ein Ritt durch die Jahre ab 2015, in denen Braun, von Erffa und der ebenfalls in diesem ersten Prozess im Wirecard-Komplex angeklagte Ex-Dubai-Statthalter Oliver Bellenhaus sich zu einer „Bande“ zusammengeschlossen haben sollen, um Erlöse im sogenannten Drittpartnergeschäft (TPA) in Asien zu erfinden und Bilanzen zu manipulieren. Dabei geholfen haben sollen mehrere „anderweitig Verfolgte“, wie es in der Juristensprache heißt: allen voran Marsalek, aber auch der langjährige Wirecard-Finanzvorstand Burkhard Ley, sein Nachfolger Alexander von Knoop und fast 20 weitere Personen, gegen die die Staatsanwaltschaft München I noch ermittelt. Die Erträge aus dem TPA-Geschäft hätten „zu keinem Zeitpunkt existiert“, liest Bühring vom Blatt ab. Stattdessen habe der Angeklagte Bellenhaus gefälschte Auszüge und Bestätigungen geliefert – wobei er sich vorab bei Chefbuchhalter von Erffa erkundigt habe, welche Zahlen er liefern solle.
Staatsanwalt Bühring kämpft sich durch seine Anklageschrift, durch unzählige Namen von ominösen Wirecard-Partnerfirmen und Zeugen, durch Zahlen zu Umsätzen, Saldenbestätigungen, Treuhandkonten, durch Abkürzungen wie TPA und MCA. Als Richter Födisch um kurz vor elf Uhr eine Pause anordnet, damit die Alarmmeldungen auf die Handys der im Saal anwesenden Anwälte und Journalisten am bundesweiten Warntag die Verhandlung nicht stören, ist der Chefankläger gerade erst auf Seite 19. Nach der Pause für den Probealarm berichtet Födisch: „Bei uns war es ziemlich laut.“
Dann geht der Vortrag der Vertreter der Staatsanwaltschaft weiter. Nach Chefankläger Bühring übernimmt ein Kollege, dann eine Kollegin. Braun verfolgt die Verlesung von seinem Platz auf der Anklagebank ohne große Regung. Zeitweise hat er sein Sakko abgelegt, die meiste Zeit stiert er auf seinen Laptop, so, als habe er von all dem noch nie gehört. Manchmal tuschelt Braun mit seinem Chefverteidiger Dierlamm.
Beweisaufnahme dürfte zäh werden
Schon dieser erste Prozesstag gibt einen Eindruck, wie zäh die Beweisaufnahme in diesem Großprozess werden dürfte. Zwar hat die Münchner Staatsanwaltschaft Massen an Mails und Chats sichergestellt, Razzien durchgeführt, Zeugen gehört, in vielen Ländern um Rechtshilfe gebeten. Doch darum, wie die ganzen Unterlagen zu interpretieren sind und ob die Aussagen von Zeugen glaubhaft sind, werden sich vor allem die Verteidiger von Braun und die Ankläger in den nächsten Monaten wohl einige Scharmützel liefern.
Die Hoffnungen der Staatsanwälte liegen vor allem auf einem Zeugen, der im Gerichtssaal auf der Anklagebank direkt hinter Braun sitzt, keine drei Meter von seinem früheren CEO entfernt. Ex-Dubai-Statthalter Bellenhaus, ein unscheinbarer, blasser Mann mit kahlem Schädel, Brille und grauer Krawatte, hat sich direkt nach dem Zusammenbruch des Konzerns im Juni 2020 in ein Flugzeug nach München gesetzt und den Behörden gestellt. In langen Vernehmungen sagte Bellenhaus, der zum innersten Zirkel von Marsalek zählte, gegen seine Ex-Kollegen aus. Auch er sitzt seit Mitte 2020 in Untersuchungshaft. Die Frage des Richters, ob er aktuell über einen anderen Wohnsitz als die JVA verfügt, verneint er.
Bellenhaus’ Verteidiger Florian Eder kündigte bereits an, dass sein Mandant auch vor Gericht kooperativ sein werde. Vor Verhandlungsbeginn am Donnerstag äußerte er die Hoffnung, dass sich auch noch andere Ex-Wirecard-Leute geständig zeigen könnten. Im Gegenzug erwarte er, dass sein Mandant vor Gericht glimpflich davon kommt.
Mehr als vier Stunden dauert es, bis die Staatsanwälte sich durch ihre Anklageschrift gearbeitet haben. Danach liest der Richter noch einige Vermerke zu seiner Kommunikation mit den Anwälten der Angeklagten vor – bevor Dierlamm das Wort bekommt. Brauns Verteidiger setzt einen ersten Nadelstrich gegen den Kronzeugen Bellenhaus und die Staatsanwaltschaft. In einem Vermerk zu einem Treffen der Verfahrensbeteiligten fehle eine Aussage einer Staatsanwältin zu Bellenhaus, der offenbar zeitweise nicht mehr reden wollte, aus Enttäuschung, dass seine Untersuchungshaft nicht ausgesetzt wurde. „Wir lassen uns von Bellenhaus nicht erpressen“, soll die Anklägerin gesagt haben. Hierbei handele es sich nicht um ein unwichtiges Detail, sagt Verteidiger Dierlamm. „Wir wollen schon wissen, warum Herr Bellenhaus seine Aussagen gemacht hat.“
Der implizite Vorwurf: Womöglich gebe es bereits eine Art Vorabsprache zwischen Bellenhaus und den Anklägern oder ein Signal für eine milde Strafe im Gegenzug für seine Zeugenaussagen. Bellenhaus könne niemanden erpressen, widerspricht dessen Anwalt. Und es sei normal, dass ein Angeklagter, der sich an der Aufklärung beteilige, ein geringeres Strafmaß erwarte.
Dann ist der erste Prozesstag im Jahrhundert-Wirtschaftsverfahren vorbei. Es werden noch viele, auch deutlich spannendere Verhandlungstermine folgen.