Wirecard und das große Zahlenrätsel
Die Geschäftszahlen von Wirecard sehen wieder extrem gut aus. Der Zahlungsdienstleister wächst enorm weiter. Doch die Aktie knickt erstmal weg. Denn eine Frage bleibt: Wie korrekt ist das alles?
Es sind Geschichten wie diese, aus denen später oft Kinofilme gemacht werden. Und im Fall von Wirecard würde es wohl ein handfester Krimi werden. Die Hauptrolle spielt darin eine Firma, die vor 21 Jahren mit einer sehr guten Geschäftsidee gegründet wurde. Mit der Idee nämlich, der Welt die Echtzeitüberweisung zu ermöglichen oder zumindest erst einmal die Online-Überweisungen. Doch erst einmal geriet die junge Firma in den Strudel der Dotcom-Krise und wurde dabei von einem Unternehmen aufgekauft, der damals vom Hoffnungswert zum Pennystock mutiert war. Das bremste die Entwicklung.
Doch die Technologieidee von Wirecard ist eine, ohne die heute kein Onlineshop möglich wäre und auch kein digitales Bezahlen. Deshalb hat die Firma aus Aschheim bei München inzwischen ihren Siegeszug angetreten. Sie wächst gewaltig. So gewaltig, dass sie seit 2019 zum Kreis der 30 größten börsennotierten Konzerne Deutschlands gehört – zu den Dax-Unternehmen.
Seit Jahren gibt es aber auch Kritiker, die unbequeme Fragen stellen: Kann das wirklich sein? Stimmen all diese Zahlen, die da in den Geschäftsberichten stehen? Und geht hier alles mit rechten Dingen zu?
Die Vorwürfe von einigen Journalisten und Research-Unternehmen jedenfalls sind hart: Hier wird getrickst, sagen sie, es würden Zahlen geschönt. Es gebe Bilanzfälschungen oder zumindest Unregelmäßigkeiten bei den Buchungen. Dabei gerieten besonders Tochtergesellschaften in Asien, Dubai, Singapur und Irland in den Fokus. Und die Vorwürfe der Bilanzfälschung erhoben die Wirecard-Kritiker nicht bloß einmal, sondern immer wieder: Zuerst 2010, dann 2016, 2017 und zuletzt zweimal im vergangenen Jahr. Das brachte zumindest die Wirecard-Aktie immer wieder mächtig ins Schleudern.
Wirecard weist alle Vowürfe zurück
Aber was ist nun an den Vorwürfen dran? Diese Frage ist bis jetzt nicht eindeutig geklärt. Auch bei der Vorlage der Zahlen für 2019 erfuhren die Investoren dazu – nichts. Dabei hatten doch etliche Marktbeobachter gehofft, Wirecard ließe zumindest erste Details durchblicken, denn eine Sonderprüfung der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG läuft seit Herbst vergangenen Jahres. Wirecard hatte sie selbst in Auftrag gegeben, um endlich die Vorwürfe vom Tisch zu räumen. Und ursprünglich hieß es, sie solle bis Anfang 2020 abgeschlossen sein. Inzwischen wird das Ende des ersten Quartals als Stichtag für die Veröffentlichung der Prüfergebnisse genannt.
Nun kann man viel spekulieren, was es bedeutet, dass sich die Prüfung hinzieht und bisher so gar keine Details durchsickern: Ist es ein gutes Zeichen, weil die Wirtschaftsprüfer eben diskret und sehr gründlich ihre Arbeit erledigen und das lieber in Ruhe abschließen wollen, als vorschnell Teilergebnisse zu verkünden? Oder ist hier am Ende alles doch viel komplizierter, als gedacht und wartet die Börsenwelt deswegen bislang vergeblich auf die Entwarnung?
Kompliziert ist der Fall Wirecard in der Tat. Denn die ersten vermeintlichen Aufklärer vom Verband der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre gerieten selbst ins Visier der Ermittlungsbehörden: Genau diejenigen, die das Unternehmen vor Jahren der Falschbilanzierung beschuldigt hatten, wollten daraus selber Gewinn ziehen, stellte am Ende die Staatsanwaltschaft München fest. Sie hatten Short-Papiere gekauft und damit auf den Absturz der Aktie gewettet. Den Kurssturz schrieben sie dann selber herbei. Deshalb erging gegen sie das Urteil, sie hätten den Markt manipuliert.
Die Zahlen sehen gut aus
Auch die neueren Vorwürfe der „Financial Times“ bezeichnet Wirecard als „verleumderisch“. Das Unternehmen „weist die Anschuldigungen von Fehlverhalten kategorisch zurück“, erklärte es im Herbst. Zudem teilte Wirecard mit, es gebe auch hier Belege über die Zusammenarbeit mit Shortsellern. Doch die Journalisten legten mehrfach mit ihrer Kritik nach. Wirecard selbst wies sie jedes Mal als haltlos zurück. Noch Mitte Dezember 2019 erklärte das Unternehmen: Der jüngste Artikel „wiederholt nur alte Behauptungen, die zuvor mehrfach Gegenstand unabhängiger Prüfungen waren und sich als unbegründet erwiesen haben“. Doch die finale Sonderuntersuchung der KPMG steht im Ergebnis noch aus. Von ihr hängt ab, wie es mit Wirecard weitergeht.
Die jüngsten Zahlen des Zahlungdienstleisters jedenfalls sehen wieder gut aus, so wie es Analysten auch erwartet hatten: Der Umsatz legte weiter kräftig zu (um 38 Prozent) und lag bei 2,8 Mrd, Euro. Das war sogar ein Hauch mehr als die 2,7 Milliarden, mit denen viele gerechnet hatten. Das Ergebnis vor Steuern und Abschreibungen betrug 785 Mio. Euro und wuchs damit um 40 Prozent. Ohne einige Sondereffekte und die Ausgaben für die Sonderprüfung hätte das operative Ergebnis sogar noch 10 Mio. Euro höher gelegen. Für das laufende Jahr hat Wirecard deshalb seine Prognosen bekräftigt: Es werden weiter steigende Zahlen erwartet und das Ergebnis soll in 2020 sogar die Ein-Milliarden-Euro-Marke knacken.
Noch aber sind diese vorläufigen Zahlen an der Börse nicht sehr viel wert: Die Wirecard-Aktie jedenfalls sackte im Verlauf des Freitagvormittags kräftig ab. Am Donnerstagabend stand der Kurs noch bei rund 144 Euro, Freitagmittag waren es nur noch 140 Euro. Seit Sommer 2018 bewegt sich die Aktie nun an der Börse wie im Fahrstuhl: Mal strebt sie fast senkrecht bergauf und steigt innerhalb weniger Tage von 107 auf 161 Euro (wie im Frühling 2019), dann jagt sie wieder jäh in den Keller auf 105 Euro hinab wie im Herbst. Zuletzt pendelte sie rund um die 140er-Marke. Zwischen 100 und 160 Euro liegt das Band, in dem sie sich seit einem Jahr bewegt, das ist eine enorme Spannbreite.
Wenn man rasante Richtungswechsel mag, könnte man sagen: Aus Anlegersicht ist diese Aktie endlich mal wieder wirklich spannend. Denn sie eröffnet immer wieder Einstiegsmöglichkeiten. Und Börsianer, die einen schnellen Gewinn mitnehmen möchten, müssen oft nur ein paar Tage warten, bevor sie ihre Wirecard-Papiere mit sattem Aufschlag versilbern können. Oder sie müssen nur auf fallende Kurse setzen und warten, bis das nächste böse Gerücht die Runde macht und den Kurs wieder stürzen lässt. Genau das dürfte ja wohl auch der ausschlaggebende Grund dafür gewesen sein, weshalb die ersten Spekulanten 2010 auf die Idee kamen, die Kursbewegungen derart auszunutzen.
Welches Potenzial hat die Aktie?
Allen, die mit dem Kauf der Aktie liebäugeln sei jedenfalls als Warnung gesagt: Die Zahl der Shortseller bei Wirecard ist anhaltend groß. Es gibt also viele, die auf negative Kursbewegungen spekulieren und von einem Absturz profitieren würden. Das macht das Papier zu einem heißen Eisen.
Jenseits der irren Kursbewegungen wüssten viele Investoren sicherlich gern: Welches Potenzial steckt langfristig in der Wirecard-Aktie? Hat sie wirklich das Zeug, noch auf 270 Euro zu steigen, wie die Analysten von Hauck & Aufhäuser als Kursziel angeben? Oder auf gut 200 Euro, was immerhin auch Barclays, Berenberg, Morgan Stanley, Kepler und Baader Bank sagen. Goldman Sachs setzte mit 175 Euro zuletzt die niedrigste Kursschwelle, kaufte allerdings selbst gerade erst ein Aktienpaket von Wirecard zu. Man glaubt also offenbar an den weiteren Aufstieg des Papiers. Mehr als 70 Prozent der Analysten war zuletzt genau davon überzeugt. Die übrigen rieten fast ausnahmslos zum „Halten“. Den Verkauf empfehlen zurzeit nur ganz wenige. Warum auch, wo laut der vorgelegten Zahlen doch alles glänzend läuft?
Etliche Analysten warnen jedoch auch: Die ausstehenden KPMG-Untersuchungen seien ein „zentrales Ereignis“, das über den künftigen Erfolg von Firma und Anteilsscheineigner bestimmen dürfte, so heißt es etwa bei der Berenberg Bank. Und JP Morgan mahnt, Wirecard müsse selbst bei einem guten Testat möglichst viele Details der KPMG-Prüfung veröffentlichen. Sonst behielten die Pessimisten weiter die Oberhand und könnten auch künftig den Kurs wieder ins Flattern bringen können.
Ein zweiter Fall Comroad?
Jene, die dem Unternehmen skeptisch gegenüberstehen, fühlen sich angesichts der Bilanzfälschungsvorwürfe an eine andere Geschichte des Dotcom-Zeitalters erinnert: an den Fall Comroad. Die Anlegerwelt hatte glücksselig den stetig wachsenden Zahlen des Telematik- und Navigationshersteller Comroad vertraut. Auch diese Firma war mit ihrer Technologie-Idee um die Jahrtausendwende rückblickend der Zeit weit voraus. Und sie nahm es tatsächlich nicht so genau mit den Zahlen und Umsätzen, vor allem bei Geschäften in Asien. Was aber hierzulande viele nicht wirklich nachprüfen konnten. Comroad ging als großer Skandal in die Börsengeschichte ein. Und wenn Börsianer daraus etwas gelernt haben sollten, dann dieses: Glaube keiner Zahl, die Du bloß im Geschäftsbericht gelesen hast.
Natürlich haben Privatanleger keine großartigen Möglichkeiten, solche Bilanzen auf eigene Faust wirklich zu überprüfen. Das müssen sie wohl getrost den Analysten und Sonderprüfern überlassen. Es sollte ihnen aber zumindest bewusst sein, dass selbst solche Experten bisweilen Schwierigkeiten haben, ein Zahlenwerk realistisch einzuschätzen. Erst recht bei Unternehmen, deren Geschäftsmodell man aufgrund seiner Neuartigkeit noch als revolutionär bezeichnen muss und daher nur ganz schlecht einschätzen kann. Und ebenfalls wenn die Firmenkonstruktion oder der Verlauf der Zahlungsströme innerhalb eines Unternehmens doch recht verschachtelt sind, sodass selbst Analysten sagen: Das sei alles schwer zu überblicken. Das scheint bei Wirecard der Fall zu sein.
Derzeit streiten laut Branchenberichten wohl selbst Bilanzexperten über die Frage, wie man durchlaufende Posten im Acquiring-Bereich korrekt bilanziert. Dabei geht es um Forderungen, die in diesem noch neuen Geschäftsmodell der Digitaltransaktionen entstehen, das Wirecard betreibt. Dabei fallen einerseits Abwicklungsgebühren für das Weiterleiten von Zahlungen an und zusätzlich behält das Unternehmen vorerst Sicherheitsabschläge ein, für den Fall, dass ein Beteiligter in der Bezahlkette das Geld später nicht korrekt an den Handelspartner weiterleitet. Dann nämlich müsste der Acquirer letztlich für den Schaden aufkommen und dafür will er notfalls Geld in petto haben. Deshalb die Sicherheitsabschläge.
Die Investmentstory von Wirecard ist wirklich gut
Nun wickelt Wirecard als Acquirer aber solche Zahlungsgeschäfte im Ausland nicht komplett selbst ab, sondern nutzt auch Drittbanken, über die das Unternehmen die Geldströme laufen lässt. Und genau hier wird es unübersichtlich: Wie und wo werden in solchen Fällen also Zahlungen, Forderungen und Sicherheitsabschläge nun korrekt verbucht? Von außen scheint das bisher schwer einschätzbar zu sein.
Unregelmäßigkeiten hat es aber wohl wirklich gegeben: Jedenfalls musste Wirecard im Frühjahr 2019 einräumen, dass tatsächlich Geschäfte in Singapur nicht richtig verbucht gewesen seien. Hier seien auch Dokumente durch Ermittlungen nicht zugänglich gewesen. Es ging um kleinere Millionenumsätze und die Jahresbilanz der dortigen Unternehmensteile von 2017. Es gab auch Verwirrung um Vertragsentwürfe ohne Vertragsabschlüsse, bei denen aber wohl dennoch Buchungen vorgenommen worden waren. Offenbar ist es also in einer Firmengruppe, die nicht nur aus eigener Kraft mächtig wächst, sondern vor allem durch viele Zukäufe und Kooperationspartner, selbst für die Konzernbuchhaltung gar nicht so leicht, den Überblick zu behalten. So könnte man die Firma aus Optimistensicht verteidigen. Die Pessimisten dagegen bleiben wachsam.
Das Wachstum geht erst einmal weiter, denn die Investmentstory von Wirecard ist wirklich gut: Mit virtuellen Prepaid-Kreditkarten für Onlinezahlungen fing es an. Mit anderen digitalen Bezahlverfahren ging es weiter. In der Zwischenzeit rollten die Ascheimer ein komplettes Kassensystem für zigtausende Onlineshops, und die Reisebranche aus, aber auch für stationäre Händler. Und sie haben seit 2006 eine deutsche Banklizenz. Darüber hinaus bieten sie seit Oktober eine mobile Direktbanking-App mit Girokonto und Guthabenverzinsung an.
Mobile Payment-Apps gehören ebenso zu Wirecards Geschäft wie Prepaid-Kreditkarten, die NFC Technik für kontaktloses Bezahlen, QR Codes, und Kooperationen mit Mobilitätsdienstleistern und bald sollen auch biometrische Bezahlverfahren das Kaufen ganz ohne Kasse möglich machen. Zu den Kooperationspartnern der Gruppe gehören Namen wie Mastercard, für Alibabab machen sie Alipay hierzulande möglich, die japanische Softbank stieg bei ihnen mit ein. Und auch den chinesischen und indischen Markt will Wirecard bald großflächig beackern. Es scheint, als kenne das Wachstum derzeit gar keine Grenzen.
Genau das aber macht die Geschichte auch so unübersichtlich. Und irgendwie zu schön, um wahr zu sein. Im internationalen Vergleich übrigens ist Wirecard längst nicht die größte Nummer in diesem Geschäft. Obwohl Wirecard im Dax ist und mit knapp 18 Mrd. Euro Marktkapitalisierung schon milliardenschwer (ähnlich groß wie die Deutsche Bank übrigens). Zurzeit ruckelt sich die Branche zudem mächtig zurecht: In Frankreich schwoll der Wettbewerber Worldline gerade durch die Übernahme von Ingenico zum Branchenreisen an. Und im Vergleich zur geschluckten Ingenico wirkte Wirecard zuletzt überbewertet. Im Vergleich zum holländischen Mitbewerber Ayden immerhin wirkt Wirecards Aktie noch günstig, so gesehen könnte sie auch doppelt so teuer sein. Gegen die Weltkonzerne Apple oder Alibaba aber tun sich die kleineren Bezahlabwickler trotz ihres gigantischen Wachstums schwer.
In jedem Fall also hat die Geschichte von Wirecard noch das Zeug, zum echten Börsenkrimi zu werden. Auch unabhängig davon, wie das Ergebnis der Sonderprüfung ausfällt. Man wüsste nur zu gern schon jetzt, ob es ein Happy End geben wird oder ob die Anleger beim Abspann in Tränen ausbrechen werden.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Capital.de