Die Wirecard-Zentrale: zu bieder, um wahr zu sein? (Bild: imago images / Sven Simon)

Wirecard war mehr Religion als Unternehmen

Jahrelang kursierten Vorwürfe über Ungereimtheiten in den Wirecard-Bilanzen, viele Aktionäre hielten dem Konzern aber die Treue. Nach dem jüngsten Skandal könnte Wirecard jetzt das „deutsche Enron“ werden, schreibt Capital-Chefredakteur Horst von Buttlar.

Als wir Ende 2018 Wirecard-Chef Markus Braun zu einem Interview in Aschheim bei München trafen, standen mein Kollege und ich nach dem Gespräch noch ein wenig draußen herum. In einem etwas trostlosen Gewerbegebiet, das so gar nicht zu einem Dax-Konzern passte, zwischen Schildern, die zu Rewe, Lidl, DM und NH Hotels wiesen. „Irgendetwas ist faul in diesem Laden“, fiel dann als Satz, „irgendetwas stimmt hier nicht“.

Allerdings können Journalisten nicht über ihre Mutmaßungen und dumpfen Gefühle schreiben, sondern nur über Fakten und Vorwürfe, die sie belegen können. Nun steht Wirecard vor dem Kollaps, Braun selbst trat heute Mittag von seinem Posten als Vorstandschef zurück.

Seit Jahren immer neue Ungereimtheiten

Dass irgendetwas nicht stimmte mit Wirecard, ist ein Vorwurf, der seit Jahren mit einmaliger Hartnäckigkeit um dieses Unternehmen kreiste. Es war wie ein Stellungskrieg: Journalisten schrieben darüber, Wirecard bestritt die Vorwürfe vehement.

Vorreiter war die „Financial Times“, die nun einen journalistischen Triumph erlebt, weil sie wie kein zweites Medium viele Jahre über Ungereimtheiten in der Bilanz, dubiose Firmen in Dubai und unklare Zahlungen in Asien berichtet hatte und dabei großem Druck ausgesetzt wurde. Allein schon dieser fast epische Streit zwischen der britischen Wirtschaftszeitung und dem deutschen Zahlungsdienstleister hat etwas für die Lehrbücher.

Denn normalerweise läuft es ja so: Wenn eine Zeitung einen Fehler macht oder Behauptungen ohne Belege aufstellt, gibt es eine Unterlassung, Korrektur oder Gegendarstellung. Markus Braun bestritt alles, bezeichnete alle Vorwürfe als falsch. Es gab aber keine Gegendarstellung. Weil es ja grade Braun war, der den Beleg und Beweis schuldig blieb. Es gibt zwar eine juristische Auseinandersetzung mit der „Financial Times“, aber die zog sich über viele Jahre hin, in der die Zeitung immer neue Vorwürfe erheben konnte.

Der Streit war ein Spiegel dessen, was sich bei Aktionären, Analysten und Wirtschaftsprüfern abspielte: Seit Jahren immer neue Ungereimtheiten und Vorwürfe, Gegenwehr, neue Gutachten. Es gab Ende April sogar ein Sondergutachten von KPMG, das Wirecard als Entlastung deutete, während der Rest der Welt erschüttert war über die Vorwürfe, die darin erhoben wurden: Die Wirtschaftsprüfer waren sich unsicher, ob ein Löwenanteil der Wirecard-Gewinne zwischen 2016 und 2018 überhaupt existierte.

Aktionäre wurden zu Jüngern

Man weiß, wie solche Spiele enden, irgendwann muss es knallen. Das ist am Donnerstag passiert: Ein Dax-Konzern vermisst ein Viertel seiner Bilanzsumme und kann die Frage danach nicht mehr vertagen oder vertuschen – das ist beispiellos, das könnte das „deutsche Enron“ werden. Auch wenn sich das Unternehmen nun selbst als Opfer darstellt.

Wirecard war in den vergangenen Jahren von einem Unternehmen zu einer Religion geworden: Getragen durch einen diffusen, aber unerbittlichen Glauben, wonach der Zahlungsabwickler das große Tech-Unternehmen war, das Deutschland so bitter nötig hatte und ersehnte; das von einem schrägen, aber eben visionären Mann geleitet wurde, der sogar noch im Rollkragenpulli herumlief. Aktionäre wurden zu Jüngern, die Wirecard zäh und zornig verteidigten.

Aktionäre, denen doch etwas mulmig zumute war, hofften darauf, dass es eines Tages für alles eine wunderbare Erklärung geben würde. Wer Wirecard kritisierte, machte den Standort madig oder verstand eben nicht, worum es eigentlich ging – ein Gefühl, das man aus Diskussionen über Bitcoin kennt. Bei keinem anderen Dax-Unternehmen konnten Spekulanten so viel Blut lecken.

Nur wenige Gewinner

Die Abgründe indes, die sich in der Bilanz jetzt auftun, sind ungeheuerlich, aber gleichzeitig auch so kompliziert, dass man sie nur schwer einem Freund beim Bier beschreiben kann. Und das war und ist auch ein Problem.

Um mal ein anderes Beispiel zu nennen: Ich habe vor vielen Jahren über den Bilanzskandal bei dem einst größten Möbelhersteller Europas, Schieder, geschrieben. Da war das mit den Luftbuchungen recht simpel – das Unternehmen hatte unter anderem in Polen Möbel in der Bilanz, die es nicht gab. Ein erfundener Schrank, ein Regal aus Luft – leuchtet ein.

Wirecards Geschäftsmodell ist komplizierter, etwas für Profis – und deshalb auch geheimnisvoll. Niemand will ja zu den Leuten gehören, die das nächste große Ding nicht verstehen. Bei Themen wie „Third Party Acquirer“ und „Escrow Accounts“, die sich irgendwo in Dubai oder Asien befinden, wird das Ganze sehr verworren. Man kann so ein Verwirrspiel länger betreiben.

Die Gläubiger, Aktionäre und Kunden von Wirecard und vielleicht auch Gerichte werden entscheiden, wie das Drama weitergeht. Es gibt nur wenige Gewinner bei diesem Spiel. So oder so aber wird Wirtschaftsgeschichte geschrieben.

Dieser Kommentar erschien zuerst im Capital-Newsletter „Die Woche“ von Chefredakteur Horst von Buttlar, der hier abonniert werden kann.