„Chaotisch, völlig chaotisch“ – so erlebten Mitarbeiter die Tage der Entscheidung bei Wirecard
Wirecard befindet sich seit mehr als einer Woche im Ausnahmezustand. Doch aus dem Innern des Dax-Konzerns bringt bislang kaum etwas nach draußen. Mehrere Insider haben Finance Forward einen exklusiven Blick hinter die Kulissen eines Unternehmens im freien Fall gewährt.
Als ein „Meeting der Untoten“ beschreibt einer, der dabei war, das Managementtreffen gegen Ende der vergangenen Woche. James Freis, der neue CEO, habe noch versucht, gute Stimmung zu verbreiten, die Teilnehmer aufzubauen – ganz im „Ami-Style“. Sie sollten doch sehen, was sie mit Wirecard aufgebaut hätten.
Scharf kam es von einem Manager zurück: Er wisse doch gar nicht, was sie hier aufgebaut hätten. Von der Payment-Branche, um die es hier gehe, habe er doch keine Ahnung.
Innerhalb von wenigen Tagen hat sich die Stimmung unter den einst stolzen Mitarbeitern des Payment-Konzerns gedreht. In der Belegschaft im Hauptquartier in Aschheim bei München herrscht seit Tagen blankes Entsetzen – so berichten es mehrere Unternehmensinsider. Die Mitarbeiter fragen sich, in was für einem Konzern sie eigentlich gearbeitet haben. Sie hadern mit der Art und Weise, wie die verbliebene Führung in der Krise kommuniziert und agiert. Und sie sorgen sich um ihre Jobs und ihre Zukunft.
Von ein paar Geschehnissen weiß man: Investmentbanker von Houlihan Lokey (im Auftrag des Unternehmens) und der Berater von FTI (im Auftrag der Gläubigerbanken) suchen in den Büchern nach einem Ausweg aus der Finanzklemme. Seit Mittwochfrüh ist zudem ein Sonderbeauftragter der Finanzaufsicht Bafin mit einem sechsköpfigen Team im Haus. Die Behörde hat sie beauftragt, Zahlungen der Wirecard-Bank zu überwachen – und zu verhindern, dass aus dem Institut Gelder an die Konzernmutter abfließen. Und dann sind da der verbliebene Vorstand sowie der Aufsichtsrat, die hektisch versuchen, ein Bild der Lage zu bekommen – und zu retten, was noch zu retten ist.
Für die Mitarbeiter gab es in den zehn Tagen nach der Bekanntgabe des milliardenschweren Bilanzlochs viel zu verarbeiten. Die Büros seien relativ leer gewesen, berichtet ein Insider. Viele Mitarbeiter seien wegen der Corona-Pandemie ohnehin noch zuhause gewesen; die wenigen, die ins Büro kamen, hätten vor allem zusammen gestanden – und über die Ereignisse spekuliert. „Gearbeitet hat am Ende fast keiner“, erzählt einer. Was hätten sie auch tun sollen? Niemand weiß, wie lange es noch weitergeht.
Dafür gibt es viel, über das man reden kann: Wird sich Exvorstand Jan Marsalek stellen? („Daran glauben nur wenige.“) Oder wie kam Firmenchef Braun so schnell auf Kaution frei? „Einige meinten: Ein bisschen Untersuchungshaft hätte ihm vielleicht gut getan“, erzählt ein Mitarbeiter. Ein Angestellter berichtet, wie schockiert er gewesen sei, als ihm klar wurde: „Das ist alles Fake, das ganze Asiengeschäft.“
Vor dem Insolvenzantrag am Donnerstag versuchten einige Abteilungen noch, sich zu sortieren. Sie seien aufgefordert worden, Unterlagen für mögliche Käufer vorzubereiten, beispielsweise eine Liste mit werthaltigen Unternehmensteilen. Für die kreditgebenden Banken sei an einem Plan gearbeitet worden, mit dem die Institute überzeugt werden sollten, dass es mit einem zusammengeschrumpften Wirecard – mit vielleicht 600 Mitarbeitern – eine Zukunft geben könnte. So berichtet es ein Insider. Der Insolvenzantrag habe ihre Bemühungen aber abrupt gestoppt. Die Mitarbeiter hätten sich gefragt, ob bestimmte Meetings noch Sinn ergeben würden, erzählt einer. „Das wäre wie die Truman-Show“.
Währenddessen ging es in der Führungsetage offenbar drunter und drüber. Als „chaotisch, völlig chaotisch“ beschreibt ein hochrangiger Mitarbeiter die Lage in den Tagen nach Brauns Abgang. „Gespenstisch“ oder „Headless-Chicken-Modus“ sind andere Beschreibungen, die kursieren. Das Management, so wird berichtet, habe einerseits Kriegsrhetorik bemüht: Keiner dürfe jetzt desertieren! Und andererseits wird von einer sonst standfesten Top-Führungskraft berichtet, die nun in Tränen ausbrach.
Auch Mitarbeiter in höheren Positionen erfuhren Neuigkeiten entweder aus der Presse oder zeitgleich mit den Ad-hoc-Meldungen, die das Unternehmen für den Kapitalmarkt verschickt. „Die Aktionäre sind zurzeit wichtiger als wir Mitarbeiter“, sagt einer etwas konsterniert. Ein Manager erzählt, dass er nicht wisse, ob seine Leute in den nächsten Wochen noch einen Job hätten.
Der Insolvenzantrag von Donnerstag gilt zunächst allein für die Holding, bei der nur 200 der 5.700 Mitarbeiter beschäftigt sind. „Ich musste viele Mitarbeiter beruhigen, die Zukunftsängste haben“, berichtet eine andere Führungskraft. Mehr als Zuhören könne er im Moment aber nicht tun – denn wie es weitergeht, das wisse er selbst nicht.
Viele Mitarbeiter machen sich daher schon jetzt auf die Suche nach neuen Jobs. In sozialen Netzwerken kursiert seit Freitag eine Tabelle mit knapp 500 Mitarbeitern und ihren jeweiligen Profilen – so soll es anderen Unternehmen erleichtert werden, bisherige Wirecard-Angestellte zu rekrutieren.
Es ist noch nicht lange her, dass die Aschheimer ihr Unternehmen stolz nach außen vertraten. Die Leute von Boon zum Beispiel, jenem Wirecard-Angebot, das als Angriff auf N26 gedacht war (und für das Ex-CEO Markus Braun „Hunderte Millionen Bankkunden“ gewinnen wollte), stachen selbst in der an Begeisterungsfähigkeit nicht gerade armen Fintechszene als besonders euphorisch hervor. „Fast überheblich“ seien die Boon-Vertreter gewesen, sagt einer, der in der Szene gut verdrahtet ist. „Sie waren sehr stolz, bei Wirecard zu sein, und glaubten, sie würden den Markt aufrollen.“
Daran glaubt jetzt keiner mehr. Aber vielen Beteiligten ist wichtig zu betonen, dass die überwältigende Mehrheit der Wirecard-Mitarbeiter sich nichts habe zu Schulden kommen lassen. 99,9 Prozent der Leute hier seien „absolut integer“, sagt ein Manager.
Das Unternehmen, schreibt Wirecard-Mitarbeiter Fynn Rittersberger auf Linkedin, möge pleite sein. „Aber der Team-Spirit erfüllt uns immer noch.“