Experten warnen: Finanzspekulation in der Bevölkerung könnte zukünftig zunehmen. Bild: Getty Images

„Ich habe teilweise 1000 Euro in einer Sekunde verzockt“

Digitale Apps machen das Handeln mit Aktien und Kryptowährungen so einfach wie noch nie. Das beeinflusst, wie die Menschen traden – und hat womöglich Schattenseiten.

An die Zeit, in der für ihn alles zusammenbrach, kann Alex Martens* sich noch ziemlich genau erinnern. Mehr als zwei Jahre ist das jetzt her und der junge Mann wusste einfach nicht mehr, was er sonst machen sollte. Über 20.000 Euro Schulden hatte er bei Banken und Bekannten angehäuft, verzockte mit Glücksspiel regelmäßig sein Einkommen. Hatte er viel Zeit, zog es ihn zum Online-Glücksspiel. Hatte er wenig Zeit, zückte er einfach schnell das Smartphone und öffnete seine Trading-Apps.

Über einen der großen Anbieter handelte er mit Kryptowährungen, bei einem anderen ging es um Aktien, immer auf der Suche nach einem Adrenalinschub. „Wenn du gewinnst, fühlst du dich wie der Größte und glaubst, du hast das System verstanden. Und wenn du verlierst, denkst du, du musst noch mehr setzen, um es wieder auszugleichen“, erinnert sich Martens. Auch wenn es anders wirkte, waren die Verluste immer höher als die Gewinne, erst recht als er begann, mit Hebeln zu traden. „Ich habe teilweise 1000 Euro in einer Sekunde verzockt“, sagt er rückblickend.

Alex Martens, das erkannte er vor zwei Jahren, war süchtig. Nicht nur nach Glücksspielen, sondern auch nach Trading mit Aktien und Kryptowährungen. Als der Schuldenberg und der Druck zu groß wurden, zog er die Reißleine und packte mutig bei seinen Eltern aus. Er gab die Kontrolle über seine Konten und Finanzen ab und meldete sich bei der Selbsthilfegruppe „Glücklich Süchtig“, die ihm in dieser schwierigen Zeit half. Als Monate später ein Platz in der Suchtklinik frei wurde, ließ er sich vor Ort behandeln. „Ich wusste, dass ich den Abstand von der gewohnten Umgebung brauche und das ging nur mit einem klinischen Aufenthalt“, sagt Martens.

Digitalisierung verändert das Trading-Verhalten

Er ist damit nur einer von mutmaßlich immer mehr Betroffenen, die hierzulande mutmaßlich in eine Trading-Sucht rutschen. Große Studien und bundesweite Zahlen fehlen noch, doch Experten wie Christian Schaack sehen einen ersten Trend. Schaack ist Koordinator der Fachstelle Prävention der Glücksspielsucht und Medienabhängigkeit in Rheinland-Pfalz und warnte bei Vorträgen im vergangenen Jahr bereits, dass es möglich sei, dass „Finanzspekulation in der Bevölkerung zukünftig zunimmt.“ War das Thema lange ein Nischenthema, sieht Schaack seit einigen Monaten eine stärker werdende Strömung in diesem Bereich. „Wir sehen in der Prävention mehr Menschen, die als Glücksspielsüchtige zu uns kommen und bei denen sich herausstellt: Die sind eigentlich Trading-süchtig“, warnt der Vorstand des Fachverbands Medienabhängigkeit.

Ganz ungewöhnlich wäre so eine Entwicklung nicht. Da war zunächst der mediale Hype um Krypto- und Aktienhandel, der viel mehr Berührungspunkte für Investorinnen und Investoren geschafft hat. Zwar investiert ein Großteil der jüngeren Anleger in ETF, wie eine große Studie des DIW Econ zu den Nutzern eines großen Neobrokers von 2021 zeigt. In dieser heißt es aber auch: 20 Prozent der Nutzer investieren hauptsächlich für den Nervenkitzel. Selbst wenn der Prozentsatz heute mutmaßlich kleiner ist, weil die Anbieter mehr auf ETF-Sparpläne setzen, würde mit der Gesamtmasse der Anleger auch rein logisch die Zahl der eher spekulativen Anleger steigen. Gerade Menschen, die schon anfällig für Glücksspiel waren, könnten gefährdet sein, glaubt Schaack. Immerhin würden Studien oft „einen starken konzeptuellen Zusammenhang zwischen Spekulation und Glücksspiel“ sehen.

Mit der Digitalisierung hat sich zudem die Art verändert, wie Menschen Aktiengeschäfte abschließen. Marktzutrittsbarrieren fehlen fast völlig, was viele positive Aspekte hat: Eine viel breitere Gruppe an Anlegern strömt auf den Markt, mehr Menschen sorgen sich um Sparpläne für die Rente und sind am Erfolg des Marktes beteiligt. Doch bei anfälligen Personen kann das auch Schattenseiten haben, wie der Fall Alex Martens zeigt. Nur weil Menschen mit dem Smartphone Aktien oder Kryptowährungen kaufen, läuft das natürlich nicht auf ein problematisches Suchtverhalten hinaus.

Schnelles Denken, langsames Denken: Auch beim Aktienhandel

Dass die Anleger über Apps aber tendenziell riskanter investieren, das zeigt eine Studie des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung SAFE aus dem Jahr 2021 recht deutlich. Mit-Autor Andreas Hackethal von der Universität Frankfurt und seine Kollegen haben darin untersucht, ob sich das Trading-Verhalten einer einzelnen Person unterscheidet, wenn sie auf dem Computer oder auf dem Smartphone handelt. Geprüft haben sie das bei einer herkömmlichen Bank und mit Daten vor der Pandemie als es viele neuartige Anbieter noch gar nicht gab. Schon da zeigte sich: „Die Menschen sind eher geneigt, Aktien zu kaufen, die als Lottery Stock gelten“, sagt Hackethal. „Das sind Aktien, die zwar generell eine hohe Verlustwahrscheinlichkeit, dafür aber auch eine geringe Chance auf einen besonderen hohen Gewinn aufweisen.“ Auffällig war auch, dass die Forscher einen Spill-Over-Effekt beobachten konnten: Wer auf dem Smartphone riskant und impulsiv gehandelt hat, übertrug dieses Verhalten später tendenziell auf Trading im Web-Bereich.

Hackethal erklärt dieses eher impulsive Verhalten am Smartphone über das von Nobelpreisträger Daniel Kahneman geprägte Konzept „Schnelles Denken, langsames Denken“. Demzufolge treffen Menschen Entscheidungen aus einem von zwei Systemen heraus. Schnelles Denken ist intuitiv und spontan, also quasi das Bauchgefühl. Langsames Denken ist überlegt und abwägend, also eher die Logik. „Für den Aktienhandel wäre es gut, wenn System 2 die Oberhand hätte“, sagt Hackethal. „Moderne Apps triggern in ihrer Einfachheit aber das System 1 – und dann haben wir eine eher impulsive Entscheidung“, so der Finanzmarktexperte. „Ich muss nicht groß nachdenken, sondern kann meine Intuition direkt umsetzen.“

Dazu kommt das App-Design. Farbige Kurse, steigende und fallende Graphen, Emojis: All das kann das Gehirn beeinflussen, weiß Präventionsexperte Schaack. Das Gleiche gelte für Impulse der Anbieter zum Trading, beispielsweise durch Push-Mitteilungen. Schaack sieht darin einen Aufforderungscharakter, der, ähnlich zum Glücksspiel, die Fear of Missing Out triggert. „Gerade, wenn es nicht um langfristige Investments einer Aktie, sondern kurzfristige Kurssteigerungen geht, ist das aus Präventionssicht sehr problematisch“, sagt er. Auch die Suggestion einiger Angebote, dass man mit Wissen zu bestimmten Produkten einen Vorteil bekommen könnte, kann schwierig sein. Schaack kennt diesen Faktor aus dem Glücksspiel, wo viele Menschen glauben, sie würden bei Fußballspielen auf die richtige Mannschaft setzen können, weil sie ja selbst oft Fußball schauen. Das aber ist ein teurer Trugschluss.

Geldhäuser sehen das Phänomen aktuell nicht

Bei Banken und Neobrokern nehmen sie die möglichen Risiken für Anlegerinnen und Anleger durchaus ernst, haben aber nach eigenen Angaben viele Präventivmaßnahmen eingeführt, um die Menschen vor Spekulation zu schützen. Auch sei das eigene Geschäftsmodell nicht auf Spekulationen ausgelegt. Danach gefragt, ob ihre Kundengruppe betroffen ist, heißt es von den Geldhäusern zudem einheitlich: Das Problem sehen wir aktuell nicht – und schon gar nicht bei unserer Zielgruppe. „Kunden von Scalable legen in erster Linie breit diversifiziert an und sparen in ETFs“, heißt es beispielsweise von Scalable Capital. Mehr als zwei Drittel der Kunden sparen in ETFs, weniger als drei Prozent in Fonds, Derivate oder Krypto-ETPs. Auf Push-Benachrichtigungen verzichte man, ebenso auf Direktinvestments in Krypto-Währungen und das gesamte Geschäftsmodell sei auf langfristige Geldanlage ausgelegt.

Bei Trade Republic betont man ebenfalls, dass man sich auf langfristige Investorinnen und Investoren fokussiere, die zumeist ETF-Sparpläne kaufen. Bei Bitpanda heißt es wiederum, man investiere in den Wissensaufbau der Menschen und schalte unter anderem Disclaimer, dass Krypto-Währungen Hochrisiko-Investitionen sind. „Wir haben es unseren Nutzerinnen und Nutzern ermöglicht, rund um die Uhr Zugang zu den Finanzmärkten zu schaffen, damit sie zu einer für sie passenden Zeit Entscheidungen treffen können. Diese erhöhte Zugänglichkeit geht mit einer Verantwortung einher, deren wir uns bewusst sind und die wir sehr ernst nehmen.“ Banken waren knapper in ihren Antworten. Bei Comdirect hieß es, die Kunden seien „uns wichtig“, weshalb man Formate zum Wissensaufbau hätte. Die Deutsche Bank antwortete auf eine Anfrage nicht.

Alex Martens hat sein altes Leben mittlerweile hinter sich gelassen. Nach dem Aufenthalt in der Klinik ist nun seit zwei Jahren spielfrei, hat eine neue Ausbildung begonnen, die ihm Spaß macht. In der Selbsthilfegruppe „Glücklich Süchtig“ ist er weiterhin aktiv. Über einen Discord-Channel tauscht er sich dort mit anderen darüber aus, wie die vergangenen Wochen beieinander liefen. „Es ist gut zu wissen, dass da andere sind, mit denen man reden kann. Das hilft auf jeden Fall“, sagt Martens. Er ist froh, den Weg heraus geschafft zu haben und rät Anderen: „Sucht euch schnell Hilfe, vertraut euch anderen an. Es gibt immer einen Ausweg.“


Disclaimer 1: *Das Thema Glücksspielsucht ist für viele aktuelle und ehemalige Spieler extrem sensibel. Auch Alex Martens heißt im echten Leben anders. Wir haben seinen Namen aus Schutz vor Nachteilen im weiteren Leben geändert.

Disclaimer 2: Glücksspiel kann süchtig machen. Wenn du Probleme oder Fragen dazu hast, kontaktiere beispielsweise die „Infoline Glücksspielsucht; unter 0800 0 77 66 11 (deutschsprachig). Sie ist kostenlos.