Neue Technologien ergeben noch keine neuen Banking-Produkte
Bei neuen Technologien dreht sich stets alles um die damit verbundenen Möglichkeiten. Dirk Elsner empfiehlt eine andere Fragestellung: Welche Kundenprobleme lassen sich im Banking mit Technologie lösen?
„Ständige Veränderungen sind das Mantra des modernen Lebens“, leitet der Evolutionsbiologe David Sloan Wilson den Abschnitt „Adaption to Change“ seines aktuellen Buches „The View of Life“ ein. Wilson plädiert darin für eine evolutionäre Sichtweise auf Veränderungen und bezeichnet das als „evolve“ und „adapt“. Das, so Wilson, gelte heute noch stärker, weil mittlerweile jedes Jahrzehnt transformierend zu sein scheine. Es gelte effektive Veränderungsmethoden zu entwickeln, damit Unternehmen anpassungsfähiger werden und damit länger überleben.
Die Evolution der Innovationen wird in diesen Zeiten durch ständig variierende Technologien angetrieben. Ende August veröffentlichte die US-Analysefirma Gartner eine Übersicht aus ihren bekannten Hype-Cycle-Analysen mit 29 aufkommenden Technologien. Gartner unterteilt einen Hype Cycle in fünf Phasen: Nach einem ersten Durchbruch einer neuen Technologie (Phase 1) erreicht eine technische Neuerung den Gipfel überzogener Erwartungen (Phase 2). Derzeit befindet sich dort die 5G-Technologie für die drahtlose Fernkommunikation, die nicht nur den Mobilfunk beschleunigen soll. Teilt man die Einschätzung von Gartner, dann folgt nach den überhöhten Erwartungen das „Tal der Enttäuschung“ (Phase 3). Nach etwas realistischeren Einschätzungen folgt dem wiederum der Pfad der Erleuchtung (Phase 4). Am Ende steht das „Plateau der Produktivität“ (Phase 5), wenn die Vorteile erkannt und adaptiert werden (alle Phasen hier gut erklärt von Magazin 3).
Kein Unternehmen der Welt kann sich gleichzeitig mit allen neuen Technologien beschäftigen
Der im vergangenen Jahr veröffentlichte Hype Cycle for Digital Banking Transformation enthält für viele heute noch exotisch klingende Technologien wie Blockchain, Künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge (= Internet of Things kurz IoT). Allein hinter den Megatrends künstliche Intelligenz und Blockchain verbergen sich mittlerweile so viele Technologien und Mikrotrends, dass Gartner dafür jeweils eigene Hype Cycles veröffentlicht.
Falsche Herangehensweise an neue Technologien
Kein Unternehmen der Welt kann sich gleichzeitig mit allen neuen Technologien beschäftigen. Viele Unternehmen in der Finanzbranche haben aber erkannt, dass die Blockchain-Technologien und verschiedene Segmente der künstlichen Intelligenz von hoher Bedeutung für ihre Geschäfte sein können. Allerdings hadern auch viele, weil das „Plateau der Produktivität“ noch weit entfernt ist. Während sich Banken bisher zaghaft den verschiedenen Ausprägungen der Blockchain-Technologie genähert haben (das wird sich mit der gerade beschlossenen Blockchain-Strategie der Bundesregierung ändern), erfolgt der Einsatz von künstlicher Intelligenz bereits wesentlich breiter.
Folgt man den einschlägigen Empfehlungen von Unternehmensberatungen und Fachpublikationen, dann müsste sich heute die Finanzbranche neben künstlicher Intelligenz und Blockchain mit dem Internet der Dinge, Quantum Computing und vielen weiteren Technologien befassen. Erfahrungen zeigen aber, dass an neue Technologien oft mit falschen Fragestellungen herangegangen wird. Also etwa, wie kann uns die Blockchain-Technologie helfen, unsere bestehenden Finanzprodukte und die im Hintergrund dafür notwendigen Abwicklungsprozesse zu verbessern?
Tatsächlich könnte dies zu kurz gesprungen sein. Unternehmen suchen nämlich dann zu einer neuen Technologie ein Problem oder einen Optimierungsbedarf für die bestehenden Produkte. Geeigneter könnte aber die Fragestellung sein, welche praktischen Themen oder Anforderungen (potenzieller) Kunden sich mit Hilfe welcher Technologie verbessern oder neu entwickeln lassen.
Wie löst man Kundenprobleme mit neuen Technologien?
Wie das in der Praxis aussehen kann, hat Hans-Joachim Koeppen, Technical Leader von IBM, bei der vom Mainincubator veranstalteten Reihe „Between the Towers“ in einem sehr interessanten Vortrag „Daten für Innovation und neue Geschäftsmodelle“ vorgestellt. Er unterstrich, dass neue Technologien einen zusätzlichen Optionsspielraum für kundenorientierte Lösungen eröffnen. Ausgangspunkt ist also nicht die Frage, was lässt sich mit einer neuen Technologie anstellen, sondern wie löst man aktuelle Kundenprobleme mit einem Set neuer Technologien. Das lässt sich an den Beispielen Supply Chain Management und Automotive-Transaktionsplattform zeigen.
Supply Chain Management (SCM) ist die Bezeichnung für eine intensive Zusammenarbeit von Kunden mit ihren Lieferanten, um schneller und kostengünstiger Aufträge abzuwickeln und interne sowie externe Prozesse zu optimieren. Dieses Management einer Supply Chain gilt insbesondere bei Industrien wie etwa der Automobil- oder Handyindustrie als hoch komplex, weil hier lange Zulieferketten für die Fertigung der Endprodukte wie Autos oder Smartphones erforderlich sind. Es geht um Bestellprozesse, Produktionsplanung, Fertigung, Logistik und natürlich auch um die Finanzierung und Zahlungsabwicklung und das über verschiedene Unternehmen, deren Zulieferern und ebenso deren Zulieferer (hier als ein Beispiel die Supply Chain des iPhone 6 von Apple).
Durch den Einsatz von Technologien sollen etwa künftig für fahrerlose Pkw gebührenpflichtige Dienste wie das Bezahlen von Parkgebühren eigenständig durchgeführt werden.
Unternehmen und ihre jeweiligen Zulieferer sind ständig bemüht diese Supply Chain zu optimieren. Und dafür können sie nach Darstellung des IBM-Experten Koeppen ein ganzes Set von Technologien einsetzen, wie beispielsweise künstliche Intelligenz (zur Optimierung der Produktionsplanung), 3D-Druck (zum Ausdruck von Industrieteilen on demand vor Ort), Sensoren, das Internet der Dinge und mobile Datenübertragung (zum Erfassen des Lieferstatus), Roboter und Drohnen (für die Lieferung) und die Blockchain (zur Dokumentation des Eigentums) sowie Cash on Ledger (zur automatisierten Bezahlung).
Will man die jeweiligen Supply Chains optimieren, müssen dazu ständig verschiedene Experten kooperieren. Sie sollten einen Überblick über Veränderungen bestehender und dem Aufkommen neuer Technologien haben, um diesen nie endenden Prozess der Variation, Selektion und Innovation zu gestalten. Wichtiger Bestandteil dieses Prozesses ist die unternehmensübergreifende Kooperation, etwa um Eigentumsrechte an einem Zulieferteil mit Hilfe einer Blockchain zu dokumentieren. Dies lässt sich nämlich nicht still im Elfenbeinturm entscheiden, sondern erfordert die Verständigung mit beteiligten Partnern. Das ist zeitaufwendig und ein Grund dafür, dass vieles, was theoretisch mit neuen Technologien möglich ist, lange Zeit benötigt um das Plateau der Produktivität zu erreichen.
Digitale Geldbörse für das Bezahlen im Auto
Ein weiteres Beispiel für den lösungsorientierten Einsatz verschiedener Technologien zeigt die Car E-Wallet GmbH, eine Ausgründung des Automobil-Technologie-Konzern ZF Friedrichshafen AG. Das Startup, das sich selbst als Automotive-Transaktionsplattform für mobilitätsbezogene Dienstleistungen bezeichnet, entwickelt eine Art digitale Geldbörse. Durch den Einsatz verschiedener Technologien (der IBM-Technologe Koeppen nannte hier Blockchain, IoT, Cloud, Sensorik und mobile Datenübertragung) sollen etwa künftig für fahrerlose Pkw gebührenpflichtige Dienste wie das Befahren von Mautstrecken, das Bezahlen von Parkgebühren oder das Aufladen der Batterie eigenständig ohne Gegenwart des Fahrers durchgeführt werden. Technische Dienste, der digitale Handel und das bargeldlose Bezahlen zwischen Herstellern, Zulieferern, Dienstleistern und Kunden sollen so stark vereinfacht werden.
Jens Brokate und Marco Klein, beide ING Wholesale Banking Germany, weisen in einem Beitrag für die Börsen-Zeitung auf die Herausforderungen sogenannter In-Car Payments hin. Dabei handelt es sich um in das Fahrzeug integrierte Bezahllösungen, die es dem Nutzer erlauben, für Dienstleistungen und Waren zu bezahlen, ohne das Auto zu verlassen: Im Sinne einer nahtlosen Nutzererfahrung müsse der Zahlungsvorgang möglichst automatisiert erfolgen und sich in bereits bestehende digitale Ökosysteme der Kunden einfügen. Noch gäbe es keine etablierten Standards für einen reibungslosen Ablauf der Prozesse verschiedener Parteien, wie Fahrzeughersteller, Serviceanbieter (zum Beispiel Tankstelle, Mautbetreiber et cetera), Zahlungsdienstleister und womöglich ein Anbieter zum Beispiel von Carsharing-Diensten.
Der holländische Wirtschaftswissenschaftler Jeroen C. J. M. van den Bergh bezeichnet die Bestandteile des evolutionärer Prozesse in seinem empfehlenswerten Buch „Evolution beyond Biology and Culture“ als Variation, Selektion, Innovation und Replikation. Beide Anwendungsbeispiele zeigen deutlich, dass die isolierte Auseinandersetzung mit einzelnen neuen Technologien im stillen Kämmerlein heute nicht mehr zielführend ist. Neue Technologien müssen im jeweiligen Lösungskontext für die Leistungsempfänger betrachtet werden, wenn das Risiko einer negativen Selektion verringert werden soll.
Dieser Artikel ist zuerst bei Capital.de erschienen.