Geldherrschaft: Wie Facebook eine globale Währung schaffen will
Im Juni stellte Facebook eine Revolution vor: Das soziale Netzwerk will mit Libra eine neue globale Währung schaffen. Bitcoin-Gemeinde, Politiker und Zentralbanken waren gleichermaßen entsetzt. Die einen fürchten das Ende ihrer Utopie – andere das Ende des Finanzsystems, wie wir es kennen
Mihai Alisie hat sich gründlich vorbereitet. Der Blockchain-Experte wartet in einem Café gleich hinter dem Bahnhof des Schweizer 30.000-Einwohner-Städtchens Zug, vor sich einen Tabletcomputer und das zweite Glas frisch gepressten Orangensaft.
Ursprünglich stammt er aus Rumänien, 2014 landete er hier, im Hauptort des Kantons Zug, des kleinsten und traditionell unternehmensfreundlichsten Kantons der Schweiz. Damals war Alisie einer der Mitgründer des Blockchain-Projekts Ethereum, das unter anderem die zweitwichtigste Kryptowährung nach Bitcoin hervorgebracht hat. Alisie sollte einen Standort für eine Stiftungsgründung finden, die Wahl fiel auf Zug, und rund um Ethereum wuchs anschließend Europas wichtigster Blockchain-Standort heran. Hunderte Firmen haben sich seitdem im „Crypto Valley“ angesiedelt.
Eigentlich erzählt Alisie gerne die Geschichte dieser ungewöhnlichen Tech-Region und von den Potenzialen der Kryptoindustrie. Aber dieses Mal dauert es nur wenige Minuten, da hat er sich über ein Unternehmen in Rage geredet, das bis vor Kurzem gar nichts mit Blockchain-Technologie zu tun hatte: Facebook.
Nur wenige Tage zuvor, am 18. Juni, hat der Techkonzern seine Pläne enthüllt, gemeinsam mit mehreren Dutzend anderen Unternehmen und Institutionen eine Kryptowährung namens Libra zu starten. Der Plan ist ambitioniert, aber geht er auf, könnten künftig Milliarden von Menschen Libra als alltägliches Zahlungsmittel verwenden – nicht nur die 2,4 Milliarden Facebook-Nutzer, die es ohnehin schon gibt. Libra könnte eine globale Parallelwährung werden. Eine, die, so ein Facebook-Manager, „Hunderte von Jahren“ überdauert. Und die das alte Weltfinanzsystem aus den Angeln hebt.
„Wenn Black Mirror noch Ideen braucht, sollten sie sich einfach Libra angucken“ – Mihai Alisie
Die Kritik daran kam schnell und von prominenter Seite. „Es steht außer Frage, dass Libra zu einer souveränen Währung wird“, meint der französische Finanzminister Bruno Le Maire. „Das kann und darf nicht passieren.“ Mit Libra entstünde „ein komplett neues globales Finanzsystem, das aus der Schweiz gesteuert wird und eine Konkurrenz zu US-amerikanischer Geldpolitik und dem Dollar sein soll“, fürchtet eine Gruppe demokratischer Kongressabgeordneter, die Facebook zu einem Moratorium aufgerufen haben. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sagt: „Nur ein Dummkopf würde Facebook seine Finanzen anvertrauen.“
Auch Mihai Alisie ist, milde ausgedrückt, entgeistert. Er zückt sein Tablet, auf dem er eine lange Liste von Links zusammengestellt hat. Es sind die Verfehlungen des Konzerns aus der jüngeren Vergangenheit. Alisie trägt vor: Facebook bezahlt Jugendliche, um ihre Daten ausspähen zu dürfen. Facebook fragt Banken nach Kreditkartentransaktionen und Kontostand seiner Nutzer. Facebook speichert Statusbeiträge seiner Nutzer, selbst wenn diese nicht abgeschickt werden. Facebook patentiert einen Algorithmus, der Nutzer in soziale Klassen einteilt.
Wenn „Black Mirror“, die dystopische Science-Fiction-Serie, noch Ideen brauche, sagt Alisie, „dann sollten sie sich einfach das angucken“. Das Internet sei einmal ein Mittel zu mehr Selbstbestimmung gewesen. Und was hätten Konzerne wie Facebook daraus gemacht? „Ein Tool der Kontrolle und des Trackings.“ Und nun? „Nun wird etwas Ähnliches mit Blockchain passieren.“
Attraktive Krake
Einst versprach die Welt der Kryptowährungen neue Freiheiten: die Möglichkeit, weltweit Handel zu treiben, ohne dafür staatliche Instanzen zu benötigen. Keine Zentralbanken etwa, die Währungen ausgeben und kontrollieren. So sollte ein neues Internet entstehen, das die Macht von Banken, Regierungen und Tech-Monopolisten bricht.
Aber nun kommt ausgerechnet Facebook, der als Datenkrake verschriene Weltkonzern, eignet sich die Technik an und will damit die erste massentaugliche Digitalwährung schaffen. Mit Libra werde Facebook „die umfassendste Datenbank in der Geschichte der Menschheit“ aufbauen, sagt Alisie. Denn dass Libra ein Erfolg wird, davon ist er überzeugt. „Ihr Plan ist klug. Und attraktiv für die Leute.“
Der Versuch, das soziale Netzwerk zum relevanten Finanzplayer auszubauen, beginnt Weihnachten 2017 an einem Strand in der Dominikanischen Republik. Dort verbringt David Marcus seinen Urlaub, Chef von Facebooks Kommunikationstool Messenger. Marcus ist ein erfahrener Tech-Manager, in Frankreich geboren, in der Schweiz aufgewachsen, Gründer mehrerer Startups, später Chef von Paypal und seit 2014 bei Facebook. Ende 2017, auf dem Höhepunkt des Bitcoin-Hypes, glaubt Marcus, die ultimative Bezahlidee gefunden zu haben: eine Kryptowährung, initiiert von Facebook, aber getragen von einem Konsortium von Unternehmen. Letzteres würde der Idee noch mehr Reichweite und vor allem Vertrauen bringen – etwas, das Facebook alleine in Zeiten regelmäßiger Datenschutzskandale nicht mehr entgegengebracht wird.
Ausgerechnet Facebook, der als Datenkrake verschriene Weltkonzern, eignet sich die Blockchain-Technologie an und will damit die erste massentaugliche Digitalwährung schaffen
Marcus schickt eine Nachricht an Mark Zuckerberg. Der CEO findet Gefallen an dessen Idee. Der Messenger-Chef baut sie aus, schreibt ein erstes Konzept; innerhalb weniger Monate verlässt er seinen alten Posten und beginnt, ein neues Team zusammenzustellen. Auf zwei abgeschotteten Büroetagen am Rande des Facebook-Campus in Menlo Park bereiten bald über 100 Leute das wichtigste Projekt des Tech-Konzerns seit Jahren vor: eine Währung zu schaffen, die bekannten Kryptowährungen wie Bitcoin stark ähnelt, sich jedoch vor allem in zwei wichtigen Punkten von ihnen unterscheidet.
Da ist zunächst ihre Architektur: Über Bitcoin herrscht niemand, es gibt keine zentrale Datenbank, in der Transaktionen aufgezeichnet werden. Stattdessen hält die sogenannte Blockchain sämtliche Zahlungen fest – ein Datensatz, der bei allen Knotenpunkten des Bitcoin-Netzwerks hinterlegt ist und ständig fortgeschrieben wird. Einen solchen Knotenpunkt wiederum kann jeder betreiben, der mag. Man muss nur die Software dazu herunterladen.
Facebook will für Libra ein ähnliches Prinzip nutzen – nur dass zunächst doch eine zentrale Instanz die Knotenpunkte betreiben soll: die Libra Association in Genf, die Facebook dafür mit 27 anderen Unternehmen, NGOs und Forschungseinrichtungen gründet. Darunter sind digitale Player wie Spotify oder Payment-Riesen wie Paypal und Visa. Banken und die Tech-Konkurrenz wie Google fehlen. Bis zum Start 2020 sollen es 100 Mitglieder sein.
Migranten im Visier
Vor allem aber – zweiter Unterschied – soll diese Organisation all die Euro, Dollar oder Yen verwahren, mit denen die Nutzer Libra erwerben. Investiert wird das Geld in Bankeinlagen und kurz laufende Staatsanleihen. Libra wäre damit eine Stablecoin, das heißt, ihr Wert – anders als bei Bitcoin – durch die Währungsreserve gestützt. Das soll wilde Preisschwankungen verhindern, anders als bei Bitcoin wenig Raum zum Spekulieren lassen und Libra zu einem tatsächlich funktionierenden Zahlungsmittel machen.
Zwar dürften eines Tages auch Kredit- und Investmentangebote mit der Libra-Blockchain umgesetzt werden, zunächst aber geht es tatsächlich nur darum: bezahlen. Dem Nutzer soll ein digitales, in WhatsApp und den Facebook-Messenger integriertes Portemonnaie zur Verfügung gestellt werden, mit dem sich Libra hin- und herschicken lassen. Einfach, günstig und vor allem über Landesgrenzen hinweg.
Es hat seinen Grund, dass Facebook mit dieser Anwendung beginnt: Weltweit überweisen Migranten jedes Jahr rund 700 Mrd. Dollar in ihre Heimatländer – oft über Anbieter wie Western Union, die fast ein Zehntel der jeweiligen Summe an Gebühren behalten. Fintech-Angreifer wie Paypal sind zwar längst günstiger – bloß kann man sie nur mit Kreditkarte oder Konto nutzen, und weltweit sind noch gut 1,7 Milliarden Menschen vom Bankensystem ausgeschlossen. Von diesen Menschen aber besitzen wiederum zwei Drittel ein Smartphone – und genau die will Facebook mit Libra erreichen.
Libra spaltet die Szene, die ohnehin zum leidenschaftlichen Streit neigt
Im einfachsten Fall dürfte man künftig über dieselben Verkaufsstellen, an denen Kunden ihr Prepaidhandy aufladen, auch Geld ins Libra-Portemonnaie laden können. Die Gebühren für die Transaktionen sollen vernachlässigbar sein, Facebook will anderweitig Geld verdienen: mit mehr Umsatz bei Onlineshops und Werbeanzeigen, mit der Rendite der angelegten Währungsreserven, später auch mit den geplanten Finanzprodukten. Facebooks Reichweite dürfte schnell dafür sorgen, dass das günstige Bezahlmodell eines für die Massen wird.
„Für eine breite Akzeptanz neuer Technologien braucht es breit einsetzbare Use Cases“, sagt Olaf Hannemann. Mit seinem Kompagnon Mathias Ruch betreibt er von Zug aus die Venture-Capital-Firma CV VC, die in Blockchain-Unternehmen investiert. Die beiden empfangen auf der Terrasse ihres Büros auf der anderen Seite des Bahnhofs von Zug. Ruch sagt: „Es gibt seit dem 18. Juni eine neue Zeitrechnung.“ Seitdem Facebook an diesem Tag seine Pläne vorgestellt hat, kennt die Krypto-Welt eigentlich kein anderes Thema mehr.
Libra spaltet die Szene, die ohnehin zum leidenschaftlichen Streit neigt. Die Investoren gehören zur Fraktion der Pragmatiker, für sie ist Libra der Türöffner in den Massenmarkt. Auf der anderen Seite stehen Idealisten wie Alisie, die Verrat an den Werten der Krypto-Idee wittern.
Wie schwierig das Verhältnis zwischen Facebook und der Branche ist, zeigt das Beispiel eines kleinen Start-ups mit einem kurzen Leben: Chainspace. Dessen Geschichte beginnt 2017, als eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Londoner IT-Sicherheitsexperten George Danezis vom University College London eine Lösung für eines der drängendsten Probleme der Blockchain-Technik präsentiert: Wie können die dezentralen Systeme schneller gemacht werden? Bitcoin etwa schafft wegen des riesigen Netzwerks nur sieben Transaktionen pro Sekunde – der Kreditkartenkonzern Visa wickelt in der gleichen Zeit nach eigenen Angaben 24.000 ab, Libra soll auf immerhin 1.000 kommen.
Das Chainspace-Konzept, das zu Beginn unter anderem von einem Programm der EU-Kommission für Datenschutzprojekte finanziert wurde, war verheißungsvoll. Schnell wurden große Pläne geschmiedet, Anfang 2018 formte man ein Startup, fand Investoren, später sollte ein Krypto-Crowdfunding folgen.
„Der Weg in die Dystopie ist mit guten Vorsätzen gepflastert“ – Mustafa Al-Bassam
Dann schlug Facebook zu: Anfang 2019 kaufte es das Start-up, Danezis und zwei weitere Wissenschaftler wechselten in David Marcus’ Blockchain-Team, ihre Namen tauchten später im Libra-Whitepaper auf, dem Grundlagendokument des Projekts. Ein weiterer Chainspace-Gründer, Dave Hrycyszyn, hielt es nur wenige Wochen bei Facebook aus, dann ging er wieder. Heute ist er CTO bei Nym, einem Datenschutz-Start-up. Danezis und Hrycyszyn sprechen nicht mit der Presse, sie haben Geheimhaltungsverträge unterschrieben.
Den Dollar schwächen
Was ihr Umfeld aber von dem Seitenwechsel denkt, das lässt sich in Erfahrung bringen. Mustafa Al-Bassam, ein Chainspace-Mitgründer, der das Facebook-Angebot ausschlug, schreibt auf Twitter: „Ich habe keine Zweifel, dass das Libra-Team Libra aus guten Gründen baut: um ein offenes, dezentrales Payment-System zu schaffen, nicht um Facebook noch mächtiger zu machen. Nur: Der Weg in die Dystopie ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“
Harry Halpin, ein langjähriger Wegbegleiter von Danezis und heutiger Nym-CEO, sagt: „George war einer der talentiertesten Sicherheitsforscher.“ Was Halpin von Facebook hält, wird schnell klar: „Mit Libra wird versucht, ein globales Konzernbankensystem aufzubauen, außerhalb der Kontrolle von Nationalstaaten. Hier wird ein neues, zentralisiertes Bankensystem geschaffen. Dieses Mal im Silicon Valley.“
Die Kritik an Libra kommt aber nicht nur aus den Kryptozirkeln – wohl noch nie hat das Vorhaben eines privaten Unternehmens so schnell so viele staatliche Kritiker auf den Plan gerufen. Notenbanker, Finanzpolitiker und Aufsichtsbehörden fürchten das Entstehen einer riesigen Schattenbank und zweifeln, dass der Wert von Libra wirklich stabil bleiben kann, wenn nicht nur Dollar, Euro und Yen die Währungsreserve bilden, sondern auch mexikanische Peso oder türkische Lira.
Sie beunruhigt, dass die neue Weltwährung die Bedeutung des Dollars schwächen und den Zentralbanken die Möglichkeiten für souveräne Geldpolitik nehmen könnte. Und sie gruselt es bei der Vorstellung, dass die Libra-Organisation zum größten Vermögensverwalter der Welt und zum wichtigsten Gläubiger von Staatsanleihen werden könnte.
Am direktesten aber bedroht Libra die Bankenwelt. Die Institute würden einerseits Einlagen verlieren, wenn Nutzer ihr Geld in Libra parken. Vor allem aber hätten sie endgültig keinen exklusiven Zugang zu den Endkunden mehr, der ohnehin durch Angreifer wie Paypal oder Apple Pay in Gefahr ist. Bislang fürchteten die Banken, zum Produktzulieferer degradiert zu werden. Würden aber bei Libra auch Kredite vergeben und Investmentprodukte entstehen, wäre selbst diese Rumpfexistenz gefährdet. Trotzdem sind US-Banken offenbar in Gesprächen über einen Libra-Beitritt – besser am Tisch sitzen, als vor der Tür stehen. Ähnliche Überlegungen dürften auch Mastercard und Visa zu Libra getrieben haben.
Damit das Mammutprojekt überhaupt an den Start gehen kann, muss Facebook mit Regierungen und Behörden kooperieren, Entgegenkommen zeigen
Deutsche Banken allerdings, heißt es aus einem der größten Institute, wurden bislang nicht angesprochen. Und auch so gibt es in der Bundesregierung starke Vorbehalte gegen das Projekt. In der Blockchain-Strategie heißt es, Stablecoins sollten „keine Alternative zu staatlichen Währungen werden“. Im SPD-geführten Finanzministerium will man den Aufstieg von Libra zu einer globalen Währungsalternative explizit verhindern. Im Ministerium kursiert ein Gegenvorschlag: Es gebe offensichtlich ein Interesse an digitalem Geld, das zeige Libra. Warum also nicht die Nachfrage mit einem staatlich ausgegebenen E-Euro bedienen?
Ein Zentralbank-Stablecoin ist keine vollkommen neue Idee, die Schwedische Reichsbank etwa prüft seit Längerem Überlegungen zur E-Krone. Bei der Deutschen Bundesbank hält man derartige Ideen allerdings für mindestens unausgereift: Digitales Zentralbankgeld untergrabe das private Bankensystem – und würde im Krisenfall das System noch instabiler machen. Bundesbank und EZB sehen das Libra-Projekt dem Vernehmen nach eher mit wohlwollendem Interesse – man werde es aufsichtsrechtlich begleiten, ein Verbot halte aber niemand für nötig.
Breaking Things
Damit das Mammutprojekt überhaupt an den Start gehen kann, muss Facebook mit Regierungen und Behörden kooperieren, Entgegenkommen zeigen, sich anders verhalten als zuletzt. „Move fast and break things“ – das Zuckerberg-Mantra, das sein Unternehmen seit frühen Tagen prägt, wird hier nicht helfen, im Gegenteil. Bloß kommt Libra trotzdem nicht allzu bescheiden daher.
Albert Wenger etwa ist Partner beim New Yorker Risikokapitalgeber Union Square Ventures, einem der Libra-Gründungsmitglieder. Auf die Frage, ob das Projekt das Finanzsystem ins Wanken bringen könnte, sagt er: „Die größte Destabilisierung kommt heute von innen“ – und meint die massiven Wertpapierkäufe, mit denen die Zentralbanken nach 2008 die Krise des Weltfinanzsystems beruhigt haben. „Der ganze Krypto-Bereich würde wahrscheinlich weniger Interesse finden, wenn die Fiatwährungen besser gemanagt wären.“
„2017 war verrückt. Jetzt kommen echte Anwendungen“ – Daniel Haudenschild
Mit solchen Ansagen dürfte es sich Libra bei Finanzaufsehern nicht gerade leichter machen. Dabei ist Wenger durchaus bereit, Defizite einzugestehen: Sicherheit, Datenschutz – es gebe viele ungelöste Fragen. Weil dazu immer wieder Entscheidungen getroffen werden müssten, sei es „das Wichtigste, die Governance der Association richtig zu entwickeln“, sagt er. „Dazu muss der Teilnehmerkreis internationaler aufgesetzt werden, als das im Moment der Fall ist.“ Noch dominieren US-Firmen und -Institutionen.
Wenger ist aber überzeugt, dass Libra der Blockchain-Technik den Weg in den Mainstream ebnen wird – selbst wenn die meisten Menschen wohl gar nicht bemerken werden, dass sie es bei Libramit Krypto-Technik zu tun haben. Er zieht den Vergleich zur Frühzeit des Internets: Die meisten Leute wüssten auch nicht, dass sie dort das Übertragungsprotokoll HTTP verwenden – trotzdem habe dessen Verbreitung durch den Microsoft Internet Explorers „massiv bei der Annahme durch Endnutzer geholfen“.
Dabei ist gar nicht einmal klar, ob Libra ein Blockchain-Projekt im eigentlichen Sinne ist. Der unbekannte Bitcoin-Erfinder, der sich bis heute hinter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto verbirgt, hat die reine Lehre der Blockchain geprägt – und zu ihr gehört, dass Blockchain keine Zugangshürden kennt: Jeder kann Teil des Netzwerks werden, einen der Knoten darin betreiben und dort Transaktionen beglaubigen. Bei Libra aber kann das nur das Konsortium. Dort ist die Macht zwar auf die Mitglieder verteilt, auch die Facebook-Tochter Calibra hat nur eine Stimme. Aber es ist zunächst eben ein exklusiver Club, kein global-egalitäres Unterfangen wie Bitcoin. Erst innerhalb von fünf Jahren, so heißt es im Whitepaper des Projekts, soll Libra vollständig dezentral werden. Jeder würde dann einen Knoten betreiben können. Aber wie diese Umstellung technisch funktionieren soll, ist unklar. Ebenso, ob Libra den Weg letztlich wirklich gehen wird. Mihai Alisie, der Ethereum-Mitgründer, glaubt das nicht. „Klar“, sagt er sarkastisch, „in fünf Jahren werden diese ganzen großen Unternehmen einfach die Kontrolle an die Menschen abgeben. Und alle halten sich an den Händen.“
Es gibt trotzdem einige Optimisten in der Blockchain-Branche. An dem Tag, an dem Alisie im Café auf Facebook schimpft, tagt wenige Hundert Meter weiter in einer alten Siemens-Fabrik eine Branchenkonferenz. Daniel Haudenschild, Präsident des Crypto-Valley-Verbands, versucht sich an einer Standortbestimmung: „2017 war verrückt“ – das Jahr, in dem der Bitcoinkurs auf fast 20.000 Dollar kletterte und Start-ups über Krypto-Crowdfundings Milliarden einnahmen. 2018 dann habe die Szene einen „Kryptowinter“ erlebt. „Finanzierungsquellen sind ausgetrocknet, dafür ist aber auch der Unsinn verschwunden.“ Jetzt, glaubt er, „kommen echte Anwendungen“.
Dieser Text erschien zuerst in der Capital-Printausgabe 08/2019. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop, hier zur Digital-Ausgabe bei iTunes und GooglePlay