Übersetzungshilfe für eine Fintech-Pressemitteilung
Startups schmücken sich in der Öffentlichkeit gerne mit guten Zahlen – wenn es die noch nicht gibt, werden die Gründer mit Kennzahlen erfinderisch. Eine Lesehilfe für die Mitteilung des Fintechs Vai.
Gründer, die an innovativen Ideen arbeiten, sind auch oft in anderen Bereichen erfinderisch. Zum Beispiel bei ihren eigenen Geschäftszahlen. Um sich ein bisschen größer zu machen als sie eigentlich sind, stellen sie ihr Unternehmen gerne im besten Licht da – wer macht das nicht? So veröffentlichte das Berliner Versicherungsstartup Friendsurance in der Vergangenheit eine beeindruckende Wachstumsgrafik – und ließ die Y-Achse einfach weg. Hauptsache, die Kurve geht weiter nach oben.
Jüngst gab uns das Berliner Fintech Vai nach einem Treffen die folgende Pressemitteilung zur Berichterstattung mit auf den Weg. Überschrift der Meldung: „Mit Künstlicher Intelligenz auf Erfolgskurs“. Für Euch, liebe Leserinnen und Leser, haben wir uns die Mühe gemacht und die Mitteilung dechiffriert.
Herausgekommen ist eine kleine Übersetzungshilfe (inspiriert durch den Kollegen Martin Dowideit, der vor einigen Jahren eine Lendico-Mitteilung übersetzte):
„Vai Trade hat seit Gründung 2017 Finanzierungsfragen in Höhe von rund 130 Millionen Euro bearbeitet.“
130 Millionen. Das klingt erst einmal nach unglaublich viel, nach vielen Nullen. Beim zweiten Lesen fragt man sich aber: Was heißt eigentlich „bearbeitet“? Die Erklärung: Es geht um das angefragte Finanzierungsvolumen. Sprich: Jeder, der Geld anfordert, wird hier mitgezählt. Auch wenn ihn das Startup ablehnt, weil seine Bonität zu schlecht ist. Vai bietet eine Warenfinanzierung an, vor allem für Online-Händler, die über das Fintech ihre Produkte vorfinanzieren können.
Gerade bei Finanzierungs-Fintechs ist es so: Startet ein neuer Anbieter, scharen sich um den neuen Player gleich all jene schwarzen Schafe, die woanders keinen Kredit bekommen haben (eine sogenannte adverse Selektion). Die entscheidende Zahl ist also das tatsächliche Kreditvolumen, denn nur damit verdient das Startup auch Geld. Und das ist in der Mitteilung leider nicht zu finden. Und: Muss das Unternehmen eine Anfrage ablehnen, verliert es doppelt – das Geschäft und die Marketingkosten, die es benötigt hat, um den Kunden auf die Seite zu bringen.
„Der digitale Wareneinkaufsfinanzierer Vai Trade verzeichnet ein deutliches, zweistelliges Wachstum (…).“
Auch hier fehlt eine kleine, aber wichtige Information: Um welche Kenngröße geht es eigentlich? Und bei welcher Basis sind sie gestartet? Es ist ein beliebter Trick von Startups: Wer klein anfängt, kann sich beim Wachstum schnell groß rechnen. Das Bargeld in meiner Brieftasche ist zum Beispiel seit gestern stark gewachsen – um 100 Prozent (von fünf auf zehn Euro).
„Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der registrierten Kunden von 2.300 auf 9.000.“
Klingt auch erst einmal viel für ein Startup, das Unternehmenskunden bedient. Aber ein registrierter Kunde ist noch kein echter Kunde. Karteileichen bringen niemandem etwas.
„Mit der speziell entwickelten KI werden eingereichte Rechnungen statt wie bisher aufwändig manuell nun vollautomatisiert kontrolliert.“
Bei den Worten „KI“ und „vollautomatisiert“ bekommen Investoren leuchtende Augen. Das skaliert richtig. Dank Big Data liege die Ausfallquote bei 0,3 Prozent und nicht bei den marktüblichen ein Prozent, heißt es in der Mitteilung. Doch solche Algorithmen sind gerade bei Fintechs immer eine Wette, denn es fehlt häufig an ausreichend Daten, die zugrunde gelegt werden können. Vai trainiert laut eigener Aussage seine Künstliche Intelligenz etwa mit Daten von Amazon, Shopify und den Konten der Händler.
Unternehmen wie das Kredit-Startup Kreditech oder auch der deutsche Ableger von Funding Circle haben es auf die harte Tour gelernt, wie schwierig der Anfang ist – ihre Ausfallquoten waren in der Skalierungsphase hoch. Vai muss erst noch zeigen, dass es auch ohne große Datenmengen seine Ausfallquoten in Zukunft gut vorhersagen kann. Gerade wenn die Wirtschaft bald abkühlen sollte, dürften mehr Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten geraten – und die Ausfallquoten steigen.
Im persönlichen Gespräch verrät Gründer Garry Krugljakow dann zumindest noch mehr zum Volumen der ausgegebenen Gelder – wenigstens näherungsweise: „Die Summe der vergebenen Finanzierungen liegt bei einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag, deutlich mehr als zehn, aber weniger als 50.“ Zur Erinnerung: 130 Millionen betrug das angefragte Kreditvolumen. Einen Großteil der Kunden lehnt das Startup also ab. Die 9.000 Kunden hätten aber „fast alle eine Finanzierung“ erhalten, teilt Vai mit – und das „deutliche, zweistellige Wachstum“ meine den zweistelligen Millionenbereich der vergebenen Finanzierungen. Wir verstehen nur noch Wachstum.
Disclaimer: Dieser stark wachsende Fintech-Newsletter hat übrigens eine (wirklich!) deutlich vierstellige Abonnentenzahl, mit 100 Prozent organischem Wachstum. Wir wachsen vor allem über Word of Mouth. Unsere Churn Rate wird nach dem diesem Artikel zumindest in einem bestimmten Büro in Berlin kurzzeitig ansteigen.