Fabio de Masi mit einem Bild, das ein polizeiliches Fahndungsplakat des ehemaligen Wirecard-Macher Jan Marsalek zeigt (Bild: Sean Gallup/Getty Images)

Abgekartetes Spiel: Was der Brief von Jan Marsalek bedeutet

Der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun spielt den dümmsten CEO Deutschlands, der sich von einer Bande um den Ex-Vorstand Jan Marsalek täuschen ließ. Mit einem Brief springt ihm sein Ziehsohn nun zur Seite. Doch vieles deute darauf hin, dass die beiden einen Deal gemacht haben, kommentiert der frühere Abgeordnete und Wirecard-Aufklärer Fabio De Masi.

Ich hatte schon mit dem Sommerloch gerechnet und dachte intensiv darüber nach, welches Thema aus der Welt der digitalen Finanzmärkte die Leser von Finance Forward interessieren könnte. Themen gab es genug: Etwa die Pläne der EU-Kommission für den digitalen Euro oder das neue futuristische Projekt Worldcoin von Sam Altman, dem Gründer des Startups OpenAI. Altman will nun per Augen-Scan der Iris eine „World ID“ zum Bezahlen vergeben.

Doch immer, wenn ich denke, ich könnte den Wirecard-Skandal einmal hinter mir lassen, macht mir Jan Marsalek einen Strich durch die Rechnung. Nun war es ein Brief des flüchtigen Wirecard-Managers, der für Schlagzeilen sorgte. Der einstige Dax-Vorstand zählt zu berüchtigsten Wirtschaftskriminellen der Welt. Sein Anwalt, Frank Eckstein, hat dem Landgericht München, das die Anklage gegen den früheren Wirecard-CEO Markus Braun führt, den Brief übermittelt.

Der Anwalt versichert die acht Seiten des Schreibens stammen aus der Feder von Marsalek selbst. Die Kernbotschaft des Briefes: Das sogenannte Drittpartnergeschäft von Wirecard war real. Das widerspricht der Version von Staatsanwaltschaft und Insolvenzverwalter – die behaupten, die 1,9 Milliarden Euro auf den vermeintlichen Treuhandkonten und die Umsätze aus dem Asien-Geschäft hätten nicht existiert. Damit stützt Marsalek in einer kritischen Phase der Gerichtsverhandlung die Verteidigung von Markus Braun, der gerade mit seinem Strafverteidiger Alfred Dierlamm zum Gegenangriff ausholte. Vieles deutet darauf hin, dass Marsalek einen Deal mit seinem früheren Chef Markus Braun hatte.

Brauns Märchenstunde: Ein Opfer von Marsalek & Co.

Vorab: Die Behauptung, Markus Braun sei der dümmste CEO Deutschlands und habe sich von einer Bande um Jan Marsalek täuschen lassen, ist dummes Zeug. So hat Markus Braun etwa noch kurz vor der Insolvenz die letzte verfügbare Liquidität im Unternehmen an eine Briefkastenfirma freigezeichnet, obwohl bereits intern Alarm geschlagen wurde. Braun hat jedes Detail im Unternehmen kontrolliert und Kommunikation gezielt vernichtet.

Ist es nicht ohnehin bizarr, dass Braun sich nun als Entlastungszeuge ausgerechnet auf einen 1,9-Milliarden-Euro-Betrüger stützt, der sich dem Prozess entzieht und als dessen Opfer er sich noch kürzlich bezeichnet hat? Auch gibt es offenbar Unstimmigkeiten zwischen Schilderungen des Briefes und Aussagen von Markus Braun, die Marsalek offenbar nicht kannte, wie die Süddeutsche Zeitung berichtetet.

Der Braun-Marsalek-Deal

Die Flucht von Jan Marsalek ergibt aus Brauns Sicht absolut Sinn. So kann er sich gefahrlos als dessen Opfer verkaufen und die Schuld bei ihm abladen. Marsalek kann hingegen die Schuld gefahrlos auf sich nehmen und den Kronzeugen der Staatsanwaltschaft, den Statthalter von Wirecard in Dubai, Oliver Bellenhaus, belasten, da sich Marsalek der Strafverfolgung entzieht. Und das ist auch schon der Kern der Geschichte hinter Marsaleks Brief.

So hat etwa die frühere Sekretärin von Markus Braun vor dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages ausgesagt, dass sie ein Gespräch überhört habe, in dem Marsalek sinngemäß äußerte: Einer müsse sich ja opfern und untertauchen. Der Whistleblower von Wirecard Singapur, Pav Gill, bemerkte auf Twitter (bzw. seit Neustem „X“) unter einem Text von mir, dass ein solcher Deal im Unternehmen ein offenes Geheimnis war. Und Braun hat kurz vor Marsaleks Untertauchen sehr darauf geachtet, dass Umstehende mitbekamen, dass er den Manager beauftragt habe, die fehlenden 1,9 Milliarden Euro auf den Treuhandkonten von Wirecard auf den Philippinen zu „suchen“. Damit schuf er den perfekten Vorwand für Marsalek, um abzutauchen.

Die Staatsanwaltschaft spielte mit

Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Staatsanwaltschaft spielte mit. Darauf habe nicht nur ich immer wieder hingewiesen, sondern kürzlich auch wieder der Financial-Times-Journalist Dan McCrum, dem wir die Wirecard-Enthüllungen zu verdanken haben. Er beklagte sich kürzlich gegenüber der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“, dass die deutsche Polizei Marsalek nicht verhaftet habe.

Denn die Staatsanwaltschaft wurde am 16. Juni 2020 von der Finanzaufsicht Bafin über die gefälschten Bankbelege und die schweren potenziellen Straftaten, die sich damit gegen den zuständigen Asien-Vorstand Marsalek richteten, informiert. Marsalek war zudem bereits 2015 als Beschuldigter in einem US-Rechtshilfeersuchen geführt worden. Später präsentierte er der Staatsanwaltschaft eine völlig irre Geschichte, wonach die Nachrichtenagentur Bloomberg Wirecard erpressen wolle.

Der Zeuge für Marsaleks-Story war ein mittlerweile verstorbener Drogendealer. Diese Story führte dann zur Einleitung eines Leerverkaufsverbots (das Verbot von Wetten auf sinkende Aktienkurse) für Aktien durch die Staatsanwaltschaft bei der Finanzaufsicht Bafin. Wenige Wochen vor Marsaleks Flucht hatte zudem bereits eine Razzia in seiner Wohnung stattgefunden, für die laut Staatsanwaltschaft zu wenig Polizeikräfte zur Verfügung standen. Und die Sonderprüfung der Wirtschaftsprüfer KPMG hatte keine Belege für die Wirecard-Milliarden gefunden. Die Flucht- und Verdunklungsgefahr war also unbestritten.

Unbehelligte Ausreise

Doch die Staatsanwaltschaft ließ Marsalek drei Tage nachdem sie durch die Finanzaufsicht von den gefälschten Bankbelegen erfuhr, unbehelligt aus Deutschland ausreisen. Bei der „Reiseplanung“ war ein ehemaliger ranghoher Verfassungsschützer Österreichs, Martin Weiss, behilflich, der mittlerweile in Dubai residiert und ein Büro in Marsaleks Villa hatte. Die Staatsanwaltschaft gab Marsalek Zeit in aller Ruhe das Geld auf den Philippinen „zu suchen“, wie sein Anwalt versicherte. Erst als Marsalek nicht zu einem vereinbarten Termin nach München zurückkehrte, wurde der Haftbefehl erlassen. So ein Pech aber auch. Wie günstig jedoch für den Fluchthelfer vom Verfassungsschutz. Denn die Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt, da ja zum Zeitpunkt der Flucht kein Haftbefehl existierte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Als ich die Staatsanwältin, die mitten im Prozess befördert und aus dem Verfahren abgezogen wurde, dazu im Bundestag befragte, warum sie Marsalek nicht verhaften ließ, behauptete sie, die Haftgründe hätten nicht ausgereicht. Als ich dann nachfragte, warum sie Marsalek nicht wenigstens vorgeladen hat, antwortete sie, die Postzustellung sei in München so langsam, da wäre er ja eh schon weg gewesen. Das ist absurd. Entweder sie hat gewusst, dass er vorhatte abzutauchen und daher keine Vorladung abgeschickt, dann hätte sie ihn sofort verhaften müssen, oder sie konnte das nicht ahnen, dann hätte sie auch Marsalek mindestens vorladen müssen. Das stinkt gegen den Wind.

Wo ist Burkhard Ley?

Es richten sich viele weitere kritische Fragen an die Staatsanwaltschaft, die laut den Behörden Singapurs auch noch nicht alle Möglichkeiten der internationalen Rechtshilfe ausgeschöpft haben, um etwa den in Singapur inhaftierten britischen Geschäftspartner von Marsalek, Henry O’Sullivan, zu befragen. Denn Singapur liefert während laufender Gerichtsverfahren nicht aus und klagt O’Sullivan parallel zum Braun-Prozess an. Ebenso spaziert der ehemalige Finanzvorstand von Wirecard, Burkhard Ley, frei herum und ist regelmäßig in Afrika auf Fotosafari.

Ley war eine Schlüsselfigur bei vielen Wirecard-Deals und pflegte Kontakte in die Politik und Sicherheitsbehörden. So spendete er nach einem Spendendinner mit dem aktuellen Finanzminister Christian Lindner für die FDP und war gern gesehener Gast bei dem CDU-Wirtschaftsrat. Den Ex-Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung, der mit Zustimmung des Kanzleramtes auf der Payroll von Wirecard stand, Klaus Dieter Fritsche (CSU), beriet Ley ebenso. Ley half Fritsche beim Einstieg eines französischen Investors bei der Waffenschmiede Heckler und Koch, eine Investition die unter Vorbehalt der Genehmigung durch Wirtschaftsminister Altmaier stand. Denn Heckler und Koch gehörte zur kritischen Infrastruktur in Deutschland. Ley soll geholfen haben eine komplizierte Struktur aus Briefkastenfirmen zu entwerfen, die Regierung winkte den Deal durch.

Bis zu den Grünen reichte Leys Netzwerk, insbesondere bei der Liberalisierung des Geldwäschemagneten Online-Glücksspiel. Nur ich wurde mit offiziellen Gesprächsanfragen ausgespart, da ich bereits Wirecard mit kritischen Anfragen bedrängte. Man fragt sich: Wenn Braun der Kopf einer Bande war, warum genießt der Rest der Bande die Freiheit?

Existierte das Drittpartnergeschäft?

Im Mittelpunkt des Verfahrens steht jedoch das sogenannte Drittpartnergeschäft. Laut Wirecard kaufte das Unternehmen Drittpartner zu, um in Märkten, wo die Wirecard über keine Lizenz verfügte, Zahlungen abzuwickeln. Die Gewinne aus diesem Geschäft seien aber für den Erfolg des Konzerns maßgeblich, da sie Zahlungen für Risikokunden in Auslandsmärkten abwickelten, die Visa und Mastercard als zu riskant galten, und hierüber höhere Margen erzielen würden. Die Gewinne wuchsen dann stets wie mit dem Lineal gezogen und wurden häufiger im letzten Quartal des Jahres etwa mit dem guten Weihnachtsgeschäft begründet. Das Problem daran: In Asien wird überwiegend kein Weihnachten gefeiert.

Die Staatsanwaltschaft und der Insolvenzverwalter haben sich festgelegt und behaupten, das Geschäft sei komplett erfunden gewesen. Dies spart die Mühe, die verschachtelten Transaktionen, die häufiger im Karussell verliefen, um Umsätze vorzutäuschen und neues Geld der Anleger einzusammeln, über Ländergrenzen nachzuvollziehen. Eine zentrale Begründung des Insolvenzverwalters für die These der frei erfundenen Umsätze lautet: Es habe keine einzige Kundenbeschwerde aus diesem Asiengeschäft nach der Insolvenz gegeben. Die Kunden hätten folglich nicht existiert.

Schwierig nachzuweisen

Braun argumentiert hingegen, es habe reales Geschäft und reale Kunden gegeben, das von Marsalek und Co. zu Lasten des Unternehmens und ohne Brauns Kenntnis veruntreut worden sei. Denn Braun weiß, dass es sehr schwer ist, die komplizierten Finanzflüsse nachzuverfolgen und dies die offene Flanke der Staatsanwaltschaft ist.

Allerdings verschafft die Staatsanwaltschaft mit ihrer kategorischen Festlegung aus meiner Sicht Braun und Marsalek einen Elfmeter, der ihm die Verurteilung wegen Bandenbetrug und Untreue ersparen könnte. Dann wäre er nur wegen der Marktmanipulation (der unrichtigen Darstellung des KPMG-Berichtes gegenüber Investoren bzw. der Öffentlichkeit) zu belangen und vermutlich schon bald aus dem Gefängnis, da die Untersuchungshaft angerechnet wird.

Denn kann Braun nachweisen, dass es Teile des Geldes bzw. des Geschäfts doch gab, hat die Staatsanwaltschaft ein Problem. Die Behauptung von Marsalek im jüngsten Brief, dass das Drittpartnergeschäft außerhalb des Konzerns weiter existiere, liest sich daher wie eine Drohung, mit der Lampe in eine dunkle Ecke zu leuchten. So habe ich seit vielen Monaten gewarnt, dass meine Kenntnis einiger Finanzflüsse auf eine dritte Variante hindeutet: Dass Wirecard für die organisierte Kriminalität und sogar Geheimdienst-Gelder wusch. Und die Mafia oder der Geheimdienst beschweren sich natürlich nicht bei der Kunden-Hotline.

Was hat Marsalek vor?

Schon gegenüber NTV sagte ich vor einigen Monaten: „Mein Eindruck ist, dass viele Leute – auch in den Sicherheitsbehörden – doch recht zufrieden sind, wenn Herr Marsalek wegbleibt. Auch für Herrn Braun ist das übrigens ganz sinnvoll, weil dann kann er vor Gericht so tun, als sei er einfach nur der dümmste CEO Deutschlands gewesen und auch Opfer von Jan Marsalek.“

Marsalek hat im Brief angekündigt, sich ein weiteres Mal zu äußern. Bisher hat er keine Belege für seine Behauptungen vorgelegt. Wenn er sich in Obhut von Nachrichtendiensten im Ausland befindet, wovon auszugehen ist, könnte der Brief auch der Versuch sein, Einfluss auf die deutsche Öffentlichkeit zu nehmen. Vielleicht ist der Brief sogar als Drohung zu verstehen: Marsalek könnte ein paar schmutzige Geheimnisse an die Öffentlichkeit zerren und den Prozess zu Gunsten von Herrn Braun beeinflussen.