Untergang mit Ansage
Wirecard hat seine letzte Chance auf Rehabilitation vergeigt. Weil das Unternehmen selbst nach monatelanger Untersuchung die Herkunft von 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz nicht klären kann, ist das Vertrauen verspielt. Die Finanzszene in Frankfurt reagiert geschockt.
So ein Debakel hat der Dax wohl noch nie gesehen. Annähernd 70 Prozent Kursverlust an nur einem Tag für ein Unternehmen, das seit gerade mal zwei Jahren im obersten deutschen Börsensegment notiert und einen atemberaubenden Aufstieg hingelegt hat: Wirecard. Oder wie einige Investoren und Analysten an diesem Donnerstag lästerten: Auweiacard!
Nicht nur, dass sich die Vorwürfe über Bilanzfälschungen durch Kooperationspartner bestätigt haben und die Vorlage des Geschäftsberichts 2019 zum vierten Mal verschoben wurde. Die Glaubwürdigkeit des Zahlungsdienstleisters ist dahin, das Bankgeschäft steht auf der Kippe und erste Spekulationen über eine Pleite machen die Runde. Der Dax-Titel stürzte binnen Minuten um mehr als 65 Prozent ab. Ein Einbruch, der in seiner Heftigkeit an den Crash der Internet-Titel am „Neuen Markt“ vor der Schließung 2003 erinnert. Zur Mittagszeit war das gesamte Unternehmen nur noch 4,2 Milliarden Euro wert und bildet damit das Schlusslicht im Dax.
Mit so schlechten Nachrichten von Wirecard hatte die Finanzszene in Frankfurt nicht gerechnet. „Wir sind fassungslos“, sagt Ingo Speich, Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei der Fondsgesellschaft Deka Investment. In den Fonds- und Bankhäusern in Frankfurt am Main ist man geschockt – und vor allem froh darüber, in den vergangenen Wochen Positionen reduziert und Research-Berichte über die operative Tätigkeit Wirecards eingestellt zu haben. Jeden Investor, jeden Kreditgeber und jeden Wirtschaftsprüfer, der Wirecard Rückendeckung gegeben hat, zieht es nun in den Sog des Skandals.
Zweifel an Wirtschaftsprüfer EY
„Dass die Belege für 1,9 Milliarden Euro fehlen, ist bedrohlich“, heißt es aus Analystenkreisen. Der Verdacht stand schon länger im Raum, doch nun hat es der einstige Überflieger unter den Dax-Unternehmen selbst eingeräumt: Es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei um Luftbuchungen handelt, maßgeblich betrieben von einem dubiosen Wirecard-Partner unter dem Namen Al Alam in Dubai. Die Geschäftsbeziehung bestand von 2013 bis Mitte Mai dieses Jahres. Bereits ein Versuch der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, den Vorwurf fiktiver Kundenbeziehungen zur Erhöhung des Umsatzes aufzuklären, scheiterte Ende April daran, dass die beteiligten Firmen Dokumente nicht zur Verfügung stellten und sich auch sonst der Sonderprüfung entzogen. Auch EY konnte diese Vorwürfe nun nicht entkräften.
Bestätigt sich der Verdacht, könnten sich auch vergangene Geschäftsberichte als falsch erweisen – ein gewaltiges Glaubwürdigkeitsdesaster für die verantwortlichen Wirtschaftsprüfer von EY. Die verweisen aktuell darauf, dass die Abschlussprüfung noch im Gange sei. „Daher können wir keine weiteren Aussagen treffen“, heißt es von EY.
Wirecard und EY müssen nun schnellstmöglich herausfinden, wie viel der 1,9 Milliarden Euro auf den Konten zweier asiatischer Partnerbanken, für die die Prüfnachweise fehlen, sich doch noch belegen lassen. „Sonst entscheidet das am Ende womöglich ein Gericht“, heißt es aus dem Unternehmensumfeld.
Markus Braun sieht sich indes mehr als Opfer denn als Betrüger. „Es ist derzeit unklar, ob es zu betrügerischen Transaktionen zum Nachteil der Wirecard AG gekommen ist“, erklärte er. Er kündigte seinerseits strafrechtliche Konsequenzen an: „Die Wirecard AG wird eine Beschwerde gegen unbekannte Personen einreichen.“
Schon Freitag, am 19. Juni, könnte ihn diese Haltung jedoch praktisch das gesamte Unternehmen kosten. Wenn Wirecard dann keine testierte Bilanz vorlegt, können die Gläubiger Wirecards die Kredite über insgesamt zwei Milliarden Euro fällig stellen. Dazu dürften die Commerzbank, die Landesbank Baden-Württemberg, die niederländischen Wettbewerber ING und ABN Amro sowie einige US-Großbanken zählen. Schlimmstenfalls zwei Milliarden Euro bei einem Barmittelbestand von knapp 600 Millionen Euro zu Jahresbeginn – das könnte schwierig werden: „Wenn die Banken die Kreditlinie ziehen, ist der Laden pleite“, sagt ein Unternehmenskenner. Gut möglich ist aber auch, dass die Banken Wirecard trotz der Unklarheiten noch etwas Zeit geben – sie müssten die Kredite nämlich sonst abschreiben.
Klagetsunami türmt sich auf
Anleger dagegen bringen sich bereits klar in Stellung. „Wir sind heute überrollt worden mit Klageanfragen“, sagt Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer des Anlegerschutzverbands DSW. Zunächst wolle man aber die Ermittlungsergebnisse der Bankenaufsicht Bafin sowie der Staatsanwaltschaft München abwarten. Die hatte vor zehn Tage die Geschäftsräume in Aschheim wegen des Verdachts auf Markmanipulation durchsucht. Die Bankenaufsicht Bafin kündigte an: „Selbstverständlich fließt der aktuelle Sachverhalt in unsere noch laufenden Marktmanipulationsuntersuchungen ein.“
Einig ist man sich in Frankfurt, dass das Unternehmen nach diesem Katastrophentag eine neue Führungsspitze braucht. „Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je. Wir hoffen, dass der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht doch noch Auswirkungen auf das operative Geschäft hat“, sagt Ingo Speich von der Deka. Mindestens Finanzchef Alexander van Knoop müsse gehen, aber auch der Kopf von Gründer, Großaktionär und Vorstandschef Markus Braun steht zur Debatte. „Ich glaube ihm sogar, dass er nichts von den Vorgängen wusste. Er hat neulich sogar sein Aktienpaket noch aufgestockt. Aber als CEO hätte er davon wissen müssen“, sagte ein Insider des Unternehmens.
Die einzigen, die heute etwas zu feiern hatten, waren die Leerverkäufer, die zuletzt massiv auf einen Kursverfall gewettet hatten. Sie sind die wenigen Gewinner des Desasters.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Capital.de.