Milliarden-Börsengang von Servicetitan: Nächste Fintech-Welle voraus?
Als eines von nur wenigen Tech-Unternehmen ist der auf Handwerker spezialisierte US-Softwareanbieter Servicetitan an die Börse gegangen – trotz durchwachsener Geschäftszahlen und einer möglicherweise überstrapazierten Bewertung. Das Potenzial der Firma aber ist riesig – und scheint auch deutsche Startups zu inspirieren.
Wohl kaum eine Branche ist so wenig von Künstlicher Intelligenz bedroht wie das Handwerk. Roboter, die auf Dächer steigen und Solarpaneele installieren oder fehlerfrei eine Küchenarmatur wechseln? Schwer vorstellbar. Umso spannender ist ein Blick auf eine Firma der Branche, die vergangene Woche an die Börse gegangen ist: Servicetitan.
Das Unternehmen aus Glendale in Kalifornien (USA) wurde 2012 von Ara Mahdessian und Vahe Kuzoyan gegründet, diese hatten zuvor eine Software geschrieben, um ihren Vätern zu helfen, die beide Handwerker waren. Mit dem Programm lassen sich beispielsweise Termine planen, Kundendaten und Verträge verwalten oder Rechnungen verschicken. Inzwischen gibt neben den Vätern noch um die 8.000 andere Kunden, die mit ServiceTitan ihren Handwerksbetrieb organisieren.
Näher an LVMH als Tesla
Besonders innovativ ist das Angebot nicht. Es bietet, was viele andere Software-as-Service-Firmen auch anbieten. Der Investor Delian Asparouhov meinte dazu kürzlich in einem Podcast, Servicetitan sei deshalb näher am Luxusgüter-Konzern LVMH als Tesla, weil das Produkt an sich nicht disruptiv ist und von paar smarten Entwicklern mit KI schnell nachgebaut werden kann. Aber das Spannende bei Servicetitan ist eben die Marke und der Kundenzugang.
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Das ist vor allem deshalb von Relevanz, weil Servicetitan anders als viele junge Software-Firmen nicht nur mit Traditionshäusern wie Salesforce oder SAP konkurriert. Oft nutzen Kunden im Handwerk noch Exceltabellen oder organisieren ihr Geschäft ganz analog. Die Marktsituation ist vergleichbar mit dem US-Onlinehandel, der nach aktuellen Berechnungen erst rund 15 Prozent am Gesamtumsatz des Einzelhandels ausmacht. Das Potenzial ist also riesig. Servicetitan ist es zudem gelungen, zu einem der wichtigsten Player in den USA aufzusteigen. Bleibt die Frage: spiegelt sich das in den Zahlen?
Wachstum schwächt sich leicht ab
Das Wachstum scheint jedenfalls intakt. Vergangenes Jahr stieg der Umsatz um annähernd 30 Prozent auf rund 570 Millionen Dollar. Das Tempo verlangsamt sich aber – im ersten Halbjahr 2024 stiegen die Umsätze verglichen mit dem Vorjahreszeitraum nur noch um 24 Prozent. Gleichzeitig muss Servicetitan das Wachstum teuer bezahlen, etwa mit hohen Ausgaben für Marketing. Die operative Verlustmarge lag 2023 bei 30 Prozent. Das Unternehmen hat also einen Verlust in Höhe von einem Drittel seines Umsatzes erzielt. Die Finanzlage verbessert sich zwar langsam, von der Gewinnschwelle ist Servicetitan aber noch weit entfernt. Dazu ist der Vertrieb kaum effizienter als bei anderen Software-Anbietern.
Ist die hohe Bewertung vor diesem Hintergrund gerechtfertigt? Bei dem jüngsten Börsengang wurde Servicetitan mit knapp sechs Milliarden Dollar bewertet, hat aber direkt am ersten Tag rund drei Milliarden dazu gewonnen. Das entspricht circa dem 15-fachen vom Umsatz.
Im Vergleich zu anderen Softwarefirmen ist das zwar nicht absurd, allerdings sind solche Branchenvergleiche immer gefährlich – das veranschaulicht aktuell der Onlinehändler About You.
In Zeiten des E-Commerce-Hypes war eine Faustregel, dass E-Commerce-Firmen mit dem Dreifachen vom Umsatz bewertet werden. Dann ist das Wachstum aber eingebrochen, Investoren haben ihre Meinung geändert und inzwischen sind Umsatzmultiples von zwei oder weniger üblich. So wurde About You bei der Übernahme durch Zalando mit rund einer Milliarde Euro bewertet – bei einem Zielumsatz von rund zwei Milliarden Euro. Angesichts der hohen Verluste wird es also auch bei Servicetitan noch viele Jahre dauern, bis man den hohen Firmenwert auch mit den Cashflows rechtfertigen kann.
Hoffnungsträger in Deutschland
Auf Produktseite ist das Unternehmen aber schon heute gut aufgestellt, es agiert inzwischen sogar als Fintech-Anbieter. Kunden haben beispielsweise die Möglichkeit, Rechnungen per SMS zu versenden, Kartenzahlungen anzunehmen oder Kredite über Partner zu beantragen. Für Servicetitan ergeben sich daraus zusätzliche und stabile Erlösquellen. In Deutschland aktiv ist das Unternehmen übrigens bislang nicht. Es gibt hierzulande aber bereits einige wichtige Wettbewerber.
Als Hoffnungsträger in der Branche gilt zum Beispiel Hero: Die Handwerkerplattform aus Hannover wird laut Eigenangaben von über 20.000 Handwerkern genutzt, die zusammengerechnet jährlich einen Umsatz von etwa 3,1 Milliarden Euro erzielen. Im Juli dieses Jahres sammelte Hero rund 40 Millionen Euro von Investoren ein. Vorbereitungen für den Start eigener Finanzprodukte sollen laufen, wie aus dem Firmenumfeld zu hören ist. Daneben gibt es noch einige kleinere Anbieter wie Plancraft, wo etwa der bekannte Fintech-Investor Creandum (Klarna, Trade Republic, Taxfix) beteiligt ist.
Fazit: Kurzfristig bleibt das Marktumfeld für Servicetitan zwar herausfordernd, die langfristigen Aussichten sind aber sehr vielversprechend, zumal das Unternehmen bislang nicht in Europa präsent ist. Das könnte sich in Zukunft aber ändern, denn Anleger wollen weiteres Wachstum auch außerhalb des US-Markts sehen. Mit rund einer halben Million Handwerksbetrieben und rund 720 Milliarden Euro Umsatz ist Deutschland sicher eine der Top-Expansionsziele. Davon könnten möglicherweise auch hiesige Wettbewerber wie Hero profitieren: sie haben mit Servicetitan einen mächtigen potenziellen Käufer.