Startup vermittelte Hunderte Fake-Wohnungen
Exklusiv: Die Immobilien-Plattform Housing Anywhere hat einen polizeibekannten Kriminellen als „ausgezeichneten Vermieter“ eingestuft. Jetzt ist er verschwunden – und mit ihm die Kaution von Hunderten Wohnungssuchenden. Wie konnte das passieren?
Joaquin Alonso hatte sich eigentlich auf Deutschland gefreut. Der 33-jährige Mexikaner wollte im November für einen Marketingjob bei einer IT-Firma nach Berlin ziehen. Die Wohnungssuche aus der Ferne blieb zunächst erfolglos, deswegen schaute er sich auf der Online-Plattform Housing Anywhere um. Das niederländische Proptech-Startup wirbt mit der sicheren und schnellen Vermittlung von Unterkünften in ganz Europa, und zwar ohne Besichtigung.
Alonso fand dort eine möblierte Ein-Zimmer-Wohnung mit hellem Parkett und Einbauküche in Berlin-Charlottenburg. Kostenpunkt: 980 Euro Warmmiete für knapp 30 Quadratmeter. „Das fand ich ganz schön teuer“, sagt er. Aber weil ihm nicht viel Zeit geblieben sei, habe er sich trotzdem beworben.
Vermieter verschwindet mit Kaution
Drei Wochen vor dem Einzug, in den frühen Morgenstunden des 29. Oktobers, bekam Alonso eine merkwürdige Nachricht von seiner vermeintlichen Vermieterin. Bei der Co-living Service habe der Besitzer gewechselt, hieß es. Deswegen müssten jetzt erst mal ein paar organisatorische Dinge geklärt werden. „Daher wird sich der Einzug bis auf unbestimmte Zeit verzögern“, schreibt das Unternehmen. Alle Zahlungen würden natürlich zurücküberwiesen.
Abzocke in fast 200 Fällen
Das Geld hat Alonso bis heute nicht wiedergesehen. Die Webseite von Co-living Service ist seit jenem Samstag offline, auf Anrufe und Nachrichten antwortet niemand mehr. Auch Housing Anywhere ist es bisher nicht gelungen, Kontakt zur Firma aufzunehmen. Das Startup geht inzwischen von einem mutmaßlichen Massenbetrug aus.
„Leider sind wir offenbar Opfer krimineller Machenschaften von einem Anbieter auf unserer Plattform geworden“, teilte ein Sprecher von Housing Anywhere auf Anfrage mit. Man habe Grund zur Annahme, dass das Unternehmen insolvent sei und habe inzwischen Strafanzeige erstattet.
Laut Housing Anywhere sind insgesamt 198 Kunden betroffen. Manche hätten sogar noch am Tag des Verschwindens der Firma einziehen sollen. Sie sind zum Teil in Hotels untergekommen. Andere Betroffene standen kurz vor dem Umzug. „Ich habe keine Ahnung, wo ich jetzt bleiben soll“, sagt etwa Tomás Pinho aus Portugal, der zum Jahresanfang für ein Auslandsstudium nach Berlin ziehen wollte.
Housing Anywhere warb mit Sicherheitsüberprüfung
Alonso, der momentan auf einem improvisierten Tagesbett bei Verwandten in Berlin übernachtet, machen die Vorfälle wütend. Er sieht die Verantwortung klar bei der Plattform Housing Anywhere. „Sie haben uns gesagt, dass der Anbieter ein sehr guter Vermieter sei“, sagt er.
Tatsächlich wirbt Housing Anywhere auf seiner Webseite mit besonders starken Sicherheitsvorkehrungen. „Unserer KI-gestützter Algorithmus hält potenzielle Betrüger in Schach, indem er betrügerische Einträge innerhalb von 5 Minuten nach ihrer Erstellung auf der Plattform entdeckt“, heißt es dort. Housing Anywhere bezeichnet sich selbst als „Europas größte Buchungsplattform für Mietunterkünfte“. Im vergangenen Jahr hat es nach eigenen Angaben 96.000 Mietabschlüsse vermittelt. Das Unternehmen sammelte seit Gründung rund 42 Millionen US-Dollar an Funding ein und kaufte einige Konkurrenten vom Markt, darunter auch die deutsche Plattform Studenten-WG.
Das Geschäftsmodell des Startups basiert darauf, für sichere Transaktionen zu sorgen. Schließlich richtet sich Housing Anywhere vor allem an Studenten und Fachkräfte aus dem Ausland, die es sich nicht leisten können oder wollen, für Besichtigungen anzureisen. Mit den Investitionen in die Sicherheit rechtfertigt das Startup auch die satte Servicegebühr: Insgesamt 245 Euro musste Alonso für die Vermittlungsdienste von Housing Anywhere zahlen. Die Gebühr hat er inzwischen wieder zurückbekommen.
Beim Proptech selbst ist man sich indessen keiner Schuld bewusst. Man bedauere den Vorfall, habe aber keine Kontrolle darüber, wenn Überweisungen außerhalb der Plattform getätigt werden. Zudem habe man einen Background-Check gemacht.
„Der Vorfall war nicht abzusehen, da wir bei unseren Anbietern immer prüfen, ob es sich um eine ordentlich eingetragene Firma handelt und wir verifizieren die handelnden Personen und deren Referenzen persönlich“, teilt ein Sprecher von Housing Anywhere mit. Anfang des Jahres habe man sich auch mit den Vertretern von Co-Living Service GmbH & Co. KG getroffen. Dabei ließen sich keine Auffälligkeiten feststellen. Das Unternehmen habe bereits seit Mai 2021 Wohnungen angeboten, ohne dass es dabei zu „relevanten Vorkommnissen“ gekommen sei.
Vermieter ist polizeibekannt
Wie sorgfältig dieser Background-Check von Housing Anywhere war, ist jedoch fraglich. Nach Recherchen von Capital und Finance Forward ist Cedric S., der Geschäftsführer der untergetauchten Firma Co-living Service, bereits länger polizeibekannt. Sein Name taucht unter anderem in einem Verfahren wegen Insolvenzverschleppung auf. Gegen seinen Vater Michael S., ebenfalls Immobilienunternehmer, gab es vergangenes Jahr in diesem Zusammenhang einen Strafbefehl, der allerdings wieder fallen gelassen wurde.
Das Vater-Sohn-Gespann ist zudem schon häufiger mit unseriösen Vermietungen aufgefallen. In Hamburg sollen sie Zimmer an Flüchtlinge für 41 bis 45 Euro pro Quadratmeter vermietet haben. Wer nicht zahlen konnte, bekam einen Schlägertrupp vorbeigeschickt. Gegen Cedric S. wurde 2019 wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Er soll die säumigen Mieter zusätzlich mit einer Schreckschusswaffe bedroht haben.
Mieterschutzbund warnt vor Miete ohne Besichtigung
Christoph Albrecht kennt solche und ähnliche Fälle. Der Fachanwalt für Mietrecht berät den Berliner Mieterschutzbund in Rechtsfragen. „Leider erlebe ich häufig, dass Vermieter sich die Unwissenheit von ausländischen Wohnungssuchenden zu Nutze machen“, sagt er. In den meisten Fällen handele es sich dabei um Wuchermieten. Angebote wie jenes von Joaquin Alonso, der 980 Euro für rund 30 Quadratmeter zahlen sollte, seien „jenseits von Gut und Böse und völlig überteuert“.
Handfeste Betrugsfälle habe der Rechtsanwalt hingegen eher selten auf dem Tisch, da sich die Betroffenen aus dem Ausland oft nicht mit deutschem Recht auskennen. So oder so seien die Aussichten in diesen Fällen nicht besonders rosig. „Das Geld ist jetzt vermutlich weg. Ich kann nur davor warnen, ungesehen etwas zu überweisen“, sagt Albrecht.
Ob Joaquin Alonsos Ein-Zimmer-Wohnung tatsächlich irgendwo in Berlin existiert, weiß er bis heute nicht. Einige der rund 200 Wohnungsanzeigen, die Capital und Finance Forward einsehen konnten, sind mit Fotos von echten Apartments aus dem Portfolio der Maklerfirma Engel und Völkers bebildert. Das Unternehmen teilte unserer Redaktion auf Anfrage mit, dass die Co-living Service GmbH & Co. KG ihnen nicht bekannt sei. „Aus unserer Sicht könnte es sich durchaus um eine Betrugsmasche handeln“, so eine Mitarbeiterin. Davon ist Alonso inzwischen fest überzeugt. Er – und dutzende andere Betroffene – haben gegen Cedric S. Anzeige bei der Polizei erstattet.