Beim Straßenhändler per App bezahlen: So wurde Chinas Wirtschaft nahezu bargeldlos
Ob beim Imbißverkäufer, Blumenhändler oder sogar Straßenmusiker – will man in China in Läden, Cafés oder auf der Straße etwas bezahlen, geschieht dies in aller Regel per Handy. Innerhalb von vier Jahren ist die Bargeldzahlung aus der chinesischen Wirtschaft fast verschwunden. FinanceFWD zeigt, wie es den großen Internetfirmen aus dem Reich der Mitte gelungen ist, Mobile Payment in der Masse zu etablieren, und warum sich auch der deutsche Markt mit den chinesischen Zahlungsdiensten auseinandersetzen sollte.
Vielleicht liegt es an der hohen Zahl der Revolutionen, die in China bereits stattgefunden haben, dass jene, die aktuell geschieht, im Westen kaum Beachtung findet – nämlich die Revolution im Zahlungswesen. Deren Wurzeln liegen im Tech-Krieg, den die beiden größten chinesischen Internet-Konzerne Tencent und Alibaba zumindest bei Zahlungsverkehrslösungen bis aufs Blut gegeneinander führen.
China hat das Desktop-Web übersprungen
Ihre Anfänge nahm Chinas Payment-Revolution bereits 2004, als Alibaba mit der Entwicklung der Bezahl-App Alipay begann, mit der das Unternehmen lange Marktführer war. Für seine E-Commerce-Geschäft ist das Unternehmen auf sichere und schnelle Zahlungslösungen angewiesen. Die waren bis dahin in einem Land, wo die staatlichen Banken bis heute alptraumhaften Service bieten und sich Kreditkarten nie wirklich etabliert hatten, in der Form nicht vorhanden.
Deswegen setzte Alipay früh auf mobile Zahlungslösungen – und profitierte in der wirtschaftlichen Entwicklung davon, dass viele Chinesen nie einen Festnetztelefon-Anschluss oder einen stationären PC besessen haben, sondern sich gleich ein Smartphone zulegten.
Das wertvollste Fintech der Welt kommt aus China
Alipay zählt aktuell 520 Millionen Nutzer weltweit und ist für Mobile Payments damit die größte App der Welt. Die Mutterfirma Ant Financial ist inzwischen beim Alibaba- Konzern ausgegliedert und gilt mit einer Marktkapitalisierung von 150 Milliarden US-Dollar als wertvollstes Fintech-Unternehmen der Welt.
Konkurrenz erwächst Alipay nur im eigenen Land: mit der Mega-App WeChat, die weltweit von über einer Milliarde Menschen genutzt wird und Bezahlfunktionen integriert hat. Die New York Times zeigt in einem Klassiker-Kurzfilm, der nach wie vor aktuell ist, wie WeChat funktioniert:
Tencents Neujahrs-Coup
Tencent, der Gaming-Konzern aus Shenzhen und Schöpfer der Mega-App WeChat, stieg erst spät in den Mobile-Payment-Markt ein. Im Jahr 2014 bewies der Konzern am chinesischen Neujahrsfest, das die Chinesen über drei Tage im Kreis der Familie feiern, mit einem Mal eindrucksvoll seine Innovationskraft bei In-App-Bezahlungen. Traditionell schenken Chinesen sich an Neujahr gegenseitig Geld in roten Umschlägen. 2014 führte WeChat Mobile-Payment-Funktionen mit einem Gimmick ein: Geld konnten sich Nutzer nun gegenseitig in virtuellen roten Umschlägen über ihre WeChat-Apps schenken.
Receiving a Red Envelope #Hongbao via @WeChatApp (unfortunately lack of Chinese ID & bank account restricted me from opening it). During the Chinese New Year (15th-20th Feb ’18) more than 768 million people sent out #RedEnvelopes via WeChat. #FiDAChina @FiDAPartnership pic.twitter.com/npfgdjDMiq
— Annabel Schiff (@DFSchiff) 20. Mai 2018
Innerhalb von zwei Tagen verschickten die begeisterten Chinesen 40 Millionen rote Umschläge. Viele Millionen neue WeChat-Nutzer verknüpfte ihre Bankkonten mit der App, und Tencent hatte Alibaba im Innovationskrieg um Zahlungslösungen nahezu vernichtend geschlagen. Jack Ma, Gründer und damals noch Chef von Alibaba, soll die psychologischen Auswirkungen der WeChat-Kampagne 2014 auf Alibaba mit dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor verglichen haben, wie in seiner Biographie von Duncan Clark zu lesen ist.
Ein spektakulärer Marketing-Trick
Ein Kundengewinnungs-Effekt der Neujahrskampagne: Auch ältere Generationen stiegen nun ins Smartphone-Banking ein, weil sie ihren Enkeln Geld in den roten Umschlägen schicken wollten. Alibaba schlug beim nächsten Neujahrsfest 2015 zurück. Aber trotz der Verwendung von Cash-Coupons in Wert von umgerechnet 100 Millionen US-Dollar erreichte der E-Commerce-Gigant nur ein Viertel des Volumens an roten Umschlag-Transaktionen im Vergleich zu WeChat.
Das lag an WeChats nächstem spektakulären Marketing-Trick: In der traditionellen Neujahrs-TV-Gala im Staatsfernsehen wurden die Zuschauer – regelmäßig über eine Milliarde Menschen – aufgefordert, ihr Smartphone zu schütteln. In ihren WeChat-Apps fanden sie daraufhin virtuelle rote Umschläge mit insgesamt 500 Millionen Yuan (umgerechnet 80 Milionen US-Dollar) verteilt vor.
Even street musicians in China have switched to digital payments with Wechat or Alipay these days… 🇨🇳🤘🏻🎸🎤📲💰#china #payment #fintech #alipay #wechat #alibaba #Tencent #digital #innovation #technology pic.twitter.com/8RkhVu9Hbi
— George Godula 🤖 (@Polymathochist) 10. September 2018
Als nächstes: Bezahlen mit dem Gesicht
Inzwischen teilen sich Alipay und WePay den Markt der mobilen Transaktionen in China anteilsmäßig in etwa auf, und Bezahlen mit dem Smartphone ist überall verbreitet. Dafür werden die in China seit etwa zehn Jahren überall verbreiteten QR-Codes genutzt. In Modellversuch-Supermärkten von Alibaba und ersten KFC-Schnellrestaurant bezahlt man inzwischen schon mit seinem Lächeln: Alipays Gesichtserkennungssystem, „Smile to Pay“ genannt, setzt biometrische Daten ein, und die Zahlung wird nach einem Lächeln in den von Alipay eingesetzten Bildschirm ausgelöst.
Kein Wunder, dass chinesische Touristen sich im Urlaub in Deutschland, wo in vielen Restaurants noch nicht einmal EC-Karten, sondern nur Bargeld akzeptiert wird, in die Steinzeit zurückversetzt fühlen. „Chinesische Touristen sind eine der lukrativsten und am schnellsten wachsenden Zielgruppen für deutsche Händler“, sagt Sven Spöde von der Digitalagentur Storymaker, die auch zertifizierter Marketing-Partner von Alipay ist. „Es macht Sinn, auf ihre Zahlungsgewohnheiten einzugehen“. 2017 übernachteten chinesische Touristen knapp drei Millionen Mal in Deutschland und gaben pro Tag ihres Deutschlandaufenthaltes 450 Euro aus. Spätestens 2030 sollen es fünf Millionen Übernachtungen sein.
Die Zahl der deutschen Akzeptanzstellen steigt
Der deutsche Zahlungsverkehrsanbieter Wirecard (seit zwei Wochen im Dax vertreten und derzeit wertvoller als die Deutsche Bank), arbeitet bereits seit mehreren Jahren mit den beiden dominanten chinesischen Mobil-Payment-Anbietern in Deutschland zusammen. Das Fintech hat nach eigenen Angaben WeChat Pay nach Europa gebracht: “Wir sind stolz darauf, einer der ersten Partner von WeChat Pay für POS-Akzeptanz in Europa zu sein“, heißt es auf seiner Website.
Einzelhändler wie Rossmann, der Münchner Flughafen oder das Münchner Kaufhaus Breuninger haben sich auf chinesische Touristen eingestellt und akzeptieren über Wirecard-Integrationen WePay und Alipay am POS. Thomas Derksen, Chinas bekanntester deutscher Influencer, warb bei seinen sechs Millionen chinesischen Followern in einer Rossmann-Filiale für die Einführung von Alipay in Deutschland. An Alipay-Marketing-Aktionen nehmen Händler damit auch teil: Über einen Storefront-Eintrag in der City Page sind sie mit ihrem Geschäft in der Alipay App auffindbar. Darüber hinaus haben sie Zugang zu Coupon-Kampagnen, die Alipay regelmäßig für Händler organisiert.
Wirecard stattet die eigene App mit Bankfunktion aus
Ant Financial verkündete vor kurzem, dass sich die Zahl der chinesischen Touristen, die Alipay außerhalb von China nutzen, im vergangenen Jahr um 130 Prozent erhöht hätte. In Asien kauft Ant Financial schon lokale mobile Zahlsysteme auf, zum Beispiel Kakao Pay in Korea, pay tm in Indien oder Dana in Indonesien. Das steht in Europa noch nicht an; auch auf Alibabas im Westen beliebter E-Commerce-Plattform Aliexpress ist Alipay nicht integriert. Aber das ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit?
Immerhin: Aktuell versucht Wirecard mit der eigenen Mobile-Payment-App Boon mobiles Bezahlen auch in Deutschland in den Mainstream zu bringen. Wie das Unternehmen am Tag der Deutschen Einheit verkündete, will es die App mit Bankfunktionen ausstatten: “Künftig sollen die Kunden via Boon Überweisungen tätigen können, Kredite ausleihen und Versicherungen abschließen.” Damit bewegt Wirecard die Deutschen ein kleines Schrittchen weiter Richtung Smartphone-Banking-Akzeptanz. Und wer weiß: Vielleicht können die Einblicke in das erfolgreiche Mobile-Payment-Geschäft der beiden großen Partner aus Fernost, Alipay und WePay, ja auch ein wenig helfen.
Ihr wollt lernen, wie man den Einsatz von Alipay und WePay für chinesische Touristen richtig anpackt? Kommt zum Strategic China Marketing Special unseres OMR Deep Dive am 20.11. in Hamburg!