Rund 1,4 Milliarden Menschen haben kein Bankkonto (Symbolbild: Jake Allen/Unsplash)

Kann Fintech die Armut überwinden?

Der Fintech-Boom in Afrika fördert finanzielle Inklusion, birgt aber auch Schattenseiten wie Überschuldung, hohe Gebühren und Datenschutzbedenken. Eine angemessene Regulierung des Fintech-Marktes ist notwendig, um negative Auswirkungen zu begrenzen, kommentiert Fabio De Masi. Bargeld bleibe für viele Menschen in Afrika weiterhin wichtig als Schutz vor Abhängigkeit von Fintechs.

Etwa 1,4 Milliarden Menschen gelten weltweit noch als „underbanked“, sie verfügen wegen unregelmäßiger Einkommen in der informellen Wirtschaft und unzureichenden Sicherheiten über keine Bankkonten. Etwa 60 Prozent der „underbanked“ leben in Afrika. Länder wie Ägypten, Nigeria, Kenia und Südafrika haben sich daher als Zentren von Fintech-Unternehmen etabliert, die Finanzdienstleistungen mit Hilfe von Datentechnologie anbieten und die Ärmsten in den digitalen Geldkreislauf holen wollen.

Hinter dem afrikanischen Fintech-Boom steht der Ausbau der Daten- und Mobilfunkinfrastruktur. Denn auch Millionen Menschen, deren Kreditrisiken aufgrund ihrer unsicheren Lebensverhältnisse für herkömmliche Banken nur mit sehr hohem Aufwand zu ermitteln sind, können mit einfachsten Mobiltelefonen zu einer Quelle enormer Profite werden. So erlauben etwa Käufe von Prepaid-Guthaben Rückschlüsse auf die Kreditwürdigkeit.

Die Fintech-Industrie und auch einige öffentlich-private Partnerschaften wie die „Better than Cash Alliance“ behaupten, „finanzielle Inklusion“ helfe, die Armut zu überwinden und die Unabhängigkeit von Frauen zu fördern. Als sich Facebook (Meta) noch für eine eigene digitale „Währung“ engagierte, lautete die Begründung gar, man wolle helfen, Kapitalverkehrskontrollen von autoritären Regimen zu umgehen und hierüber Demokratie und Menschenrechte fördern.

Wagen wir daher einen genaueren Blick: Stimmt die Story, nach der finanzielle Inklusion hilft, die Armut zu überwinden? Oder ist finanzielle Inklusion vielmehr Folge und nicht Ursache des sozialen Aufstiegs? Kann sie sogar negative Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung haben?

Der Fintech-Boom in Afrika

Die These, dass finanzielle Inklusion talentierte Kleinunternehmer mit Krediten versorge und diese so der Armut entfliehen könnten, wurde bereits während des Mikrokreditbooms zur Jahrtausendwende vertreten. Kredite für die Ärmsten würden hiernach bereits mit bescheidenen Investitionen große unternehmerische Chancen heben. Etwa, weil auch mit einfachen Werkzeugen die Produktivität von Kleinbauern enorm zunehme oder nunmehr Material für Handwerksarbeiten oder zur Ausstattung eines Ladens angeschafft werden könne. Doch der Mikrokredit-Boom diente mangels hinreichender Nachfrage in den einkommensschwachen Armensiedlungen vor allem der Konsumfinanzierung und mündete in Ländern wie Südafrika in der Überschuldung privater Haushalte.

Fintech ist Mikrokredit auf Steroiden. Statt wie bei Mikrokrediten Kreditnehmer in lokalen Gemeinschaften zu bündeln, die gegenseitig für Kredite haften, wird nun Datentechnologie genutzt. Dabei können große Datensätze (Big Data) mit Verhaltensdaten aus dem Nicht-Finanz-Bereich – etwa das Shopping-, Telefon- und Internetverhalten – Rückschlüsse auf das individuelle Kreditrisiko ermöglichen. Da Hunderte Millionen Afrikaner über kein Bankkonto verfügen, soll über mobile Geldbörsen das „leapfrogging“ in die digitalen Finanzmärkte gelingen. Ähnlich wie in etlichen afrikanischen Privathaushalten die Anschaffung eines Festnetztelefons durch das Handy übersprungen wurde.

In vielen afrikanischen Ländern herrschen zudem Banken-Oligopole. Wenige Banken, die historisch eng mit dem kolonialen Erbe verknüpft sind, haben weite Teile der Bevölkerung nicht als Kunden betrachtet und sich viele Jahrzehnte einen Markt gegönnt mit hohen Gebühren und risikoarmen Kunden aus der Mittel- und Oberschicht. In die Lücke der underbanked stoßen nun die Fintech-Unternehmen, die sich im Unterschied zu Banken mit vielen Geschäftsfeldern auf eine „digital only“ Strategie fokussieren können und hoffen, ihre Geschäftsmodelle mit hohen Entwicklungskosten schnell zu skalieren.

Der Aufstieg der M-Pesa Technologie

Erfolgreiche Fintech-Plattformen imitieren informelle Kreditsysteme der Bevölkerung. Die M-Pesa Technologie, die von etwa 50 Millionen Menschen – insbesondere im östlichen Afrika ­– genutzt wird, ist aus der Praxis vieler Afrikaner entstanden, klammen Angehörigen oder Freunden Telefonguthaben per SMS zu übermitteln.

M-Pesa wurde von der britischen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit mit dem kenianischen Mobilfunkkonzern Safaricom und der britischen Vodafone entwickelt. Safaricom gehört mittlerweile wegen der M-Pesa Technologie zu den profitabelsten Konzernen Afrikas. Entwicklungsökonomen kritisieren jedoch, dass M-Pesa über hohe Gebühren oder Zinsen und aggressive SMS-Werbung Menschen in die Schuldenfalle treibe, der lokalen Ökonomie Kaufkraft entziehe und diese an die internationalen Aktionäre verteile. So führte es zu Unmut in Kenia, dass Safaricom hohe Dividenden während der Corona-Pandemie an die britischen Vodafone abführte. M-Pesa verkauft zunehmend auch den Zugang zu medizinischer Versorgung oder sauberem Trinkwasser.

Eine vom Interessenverband Financial Sector Deepening Kenya finanzierte Studie von US-Ökonomen behauptete zunächst, dass M-Pesa über finanzielle Inklusion, rund zwei Prozent der Bevölkerung Kenias aus der Armut geholt habe. Die Studie wurde jedoch später wegen erheblicher methodischer Mängel kritisiert. So warnte selbst die an der Studie beteiligte Gates-Stiftung später vor der hohen Marktmacht von M-Pesa.

Fintech: Finanzierung von Konsum oder von Investitionen?

In einer Studie, die ich kürzlich im Auftrag der Rosa Luxemburg Stiftung zum Fintech-Boom in Afrika durchgeführt habe, kam ich bei Auswertung von Daten der Findex Database der Weltbank zum wenig überraschenden Ergebnis, dass der überwiegende Teil der Fintech-Kredite (wie bereits bei den Mikrokrediten) kaum der Finanzierung von Investitionen, sondern dem Konsum dienen.

Hinzu kommt, dass sich Afrika ebenso wie Europa durch eine enorme Vielfalt auszeichnet. So dient selbst in Afrika Fintech nicht überall der finanziellen Inklusion, sondern zielt in reiferen Fintech-Märkten eher auf die Mittelschicht ab: In Ländern wie Nigeria streben etliche Fintechs an, digitale Dienstleistungen für bestehende Bankkunden zu erbringen, um die Bürokratie der Filialen zu überwinden und rund um die Uhr Bankdienstleistungen zu ermöglichen. In Südafrika ist die finanzielle Inklusion der Bevölkerung und die Penetration des Marktes mit Smartphones bereits vergleichsweise hoch und haben sich Technologien wie M-Pesa nicht etablieren können.

Licht und Schatten des Fintech-Booms sind kein Argument gegen finanzielle Inklusion oder den Nutzen von Finanztechnologie. Diese kann den Alltag in Regionen mit schwacher Infrastruktur verbessern und Banken mit ihren hohen Gebühren unter Druck setzen. In Brasilien gibt es erste positive Erfahrungen mit öffentlichen Fintechs kommunaler Banken, die nicht Investoren bereichern, sondern die lokale Wirtschaft unterstützen und den Ärmsten Geldgeschäfte ohne exorbitante Gebühren ermöglichen. Aber das Versprechen, über die Nutzung von Technologie beim Bezahlen die Armut zu überwinden, erscheint stark übertrieben und leugnet die Schattenseiten privater Überschuldung und von hoher Daten- und Marktmacht.

Es ist vielmehr dringend nötig, den Fintech-Markt in Afrika angemessen zu regulieren, um ein böses Erwachen zu verhindern. Denn in Afrika werden zunehmend die Auswüchse von privater Verschuldung durch Wucherzinsen, hohe Gebühren sowie „debt shaming“ sichtbar, das Datenschutzbehörden auf den Plan ruft. Dabei werden etwa in Nigeria von Fintechs sämtliche Kontakte im Telefonbuch säumiger Schuldnerinnen und Schuldner angeschrieben, um diese für schwache Zahlungsmoral anzuprangern.

Die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs mit der Brechstange kann zudem in der informellen Ökonomie zu extremen Verwerfungen führen. In Nigeria kam es jüngst zu Turbulenzen, als versucht wurde, einige Bargeldnoten aus dem Verkehr zu ziehen. Denn in der informellen Wirtschaft und in ländlichen Regionen mit schlechter digitaler Anbindung ist „cash (nach wie vor) king“ und die digitale Zentralbankwährung E-Naira wird in Nigeria bisher kaum genutzt. Der Fintech-Markt in Afrika bleibt spannend und dynamisch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Aber für die Ärmsten bleibt Bargeld auch eine „firewall“ gegen die Abhängigkeit von Fintechs, die hohe digitale Profite mit dem „Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ erzielen.


Hinweis: Fabio De Masi hat kürzlich im Auftrag eines bezahlten Projektes der parteinahen Rosa Luxemburg Stiftung eine Studie zu den Auswirkungen des Fintech-Booms in Afrika verfasst. Er schreibt in seiner persönlichen Eigenschaft.