In der vergangenen Woche hat der BGH das Urteil gefällt. (Bild: IMAGO / Nicolaj Zownir)

Was das BGH-Urteil für Banken und Fintechs bedeutet

Verstörte Banken und die ersten Rückzieher: Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs, dem zufolge Schweigen keine Zustimmung zu Preisänderungen darstellt, ist die deutsche Finanzbranche verunsicherter denn je. Das große FAQ zum Thema.

Es ist ein Urteil, das die Branche zwar nicht erschüttert – aber doch extrem verunsichert. Bis vor wenigen Tagen war es völlig üblich, dass Banken und Sparkassen, wenn sie höhere Gebühren oder ein neues Preismodell durchsetzen wollten, einfach die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) änderten. Solange der Kunde nicht widersprach, galt die Sache als geritzt. Schweigen ist Zustimmung. Dann jedoch sprach der Bundesgerichtshof am vergangenen Dienstag ein ebenso überraschendes wie einschneidendes Urteil: Nein, Schweigen bedeute eben nicht automatisch Zustimmung, so der BGH. Zumindest nicht grundsätzlich.

Nur wenige Tage dauerte es, da setzten die ersten Banken bereits angekündigte Preiserhöhungen kurzerhand aus. Andere Institute  halten dagegen an ihren Gebührenänderungen demonstrativ fest. Sind die Kunden am Ende die großen Gewinner? Gehören Fintechs zu den lachenden Dritten? Und um wie viele Betroffene geht es?

Das große FAQ zum Thema von unserem Partner Finanz-Szene.de:

Worum geht es – kurz gefasst – im Urteil des BGH?

Viele Kreditinstitute räumen sich in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen das Recht ein, Änderungen an Preisen und Leistungen auf Basis des Prinzips „Schweigen ist Zustimmung“ durchsetzen zu können. Sie teilen Kunden die Änderungen – in der Regel neue oder höhere Entgelte – mit und versehen sie mit dem Hinweis, dass diese als angenommen gelten, sofern der Kunde nicht widerspricht.

Der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) hält das mindestens seit 2016 für rechtlich nicht haltbar. Er hat daher diverse Klagen gegen Banken angestrengt, unter anderem gegen die Postbank, die ebenfalls mit dieser Klausel arbeitet. In letzter Instanz gab der Bundesgerichtshof der Klage des VZBV am 27. April statt und erklärte das Vorgehen für unzulässig.

Warum haben die Verbraucherschützer ausgerechnet gegen die Postbank geklagt?

Die Postbank ist eher ein Zufallsopfer. Die große Mehrheit der deutschen Banken bedient sich solcher Klauseln, daher hat der VZBV auch bereits mehrere von ihnen abgemahnt. Das Verfahren gegen die Postbank trieb der VZBV aber bis zur höchsten Instanz, den Bundesgerichtshof. Vermutlich mit dem Ziel, Klarheit zu schaffen.

Warum schockt das Urteil viele Banken?

Das hat drei Gründe:

Erstens fühlten sich die Finanzinstitute juristisch auf sicherem Terrain. Dass Vertragsänderungen als angenommen gelten, wenn ein Kunde binnen zwei Monate nach Information durch die Bank nicht widerspricht, wurde bisher als zulässig erachtet. Als ein Vorgehen, das durch den seit 2009 bestehenden §675g des Bürgerlichen Gesetzbuchs gedeckt ist. Darin heißt es: „Der Zahlungsdienstleister und der Zahlungsdienstnutzer können vereinbaren, dass die Zustimmung (…) zu einer Änderung (…) als erteilt gilt, wenn dieser dem Zahlungsdienstleister seine Ablehnung nicht vor dem vorgeschlagenen Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Änderung angezeigt hat.“

Zweitens haben die Vorinstanzen die Klagen abgewiesen und damit diese Haltung gestützt. Das Landgericht Köln wies die VZBV-Klage 2018 (Az. 21 O 351/17) ebenso ab wie das Oberlandesgericht Köln im Jahr 2019 (12 U 87/18). Erst vor dem Bundesgerichtshof, der letzten Instanz, bekam der VZBV juristisch Recht.

Drittens betrifft das BGH-Urteil womöglich nicht nur laufende und künftige Veränderungen, sondern auch bereits früher eingeführte oder erhöhte Entgelte. Je nach Urteilsbegründung können sich Bankkunden unter Umständen Gebühren zuzüglich Zinsen zurück holen, die in den Jahren seit 2018 nicht rechtmäßig erhöht wurden (frühere Fälle gelten als verjährt). Das könnte einiges kosten und einen immensen administrativen Aufwand erzeugen.

Aber wenn das Vorgehen durch einen Paragrafen gedeckt war, wieso ist es dann nicht zulässig?

Vereinfacht gesprochen: Weil ein anderer Paragraf „sticht“. Im konkreten Fall handelt es sich dabei um die §307 bis 309 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Ohne zu juristisch werden zu wollen: Der §675g sieht zwar tatsächlich vor, dass Änderungen als erteilt gelten, wenn der Kunde nicht seine Ablehnung mitteilt. Aber in §307 steht zum Beispiel auch, dass AGB-Bestimmungen unwirksam sind, „wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen“.

Präzise diese Benachteiligung sieht der BGH in den Klauseln und ihrer Anwendung gegeben. Durch Änderungen, die mittels dieser Klauseln eingefügt werden, kann sich das Wesen des Vertragsverhältnisses komplett ändern. Konkret nannte das Gericht zwei Beispiele: Wenn ein Kunde ein kostenloses Depot eröffne, dann sei die Gebührenfreiheit ein wesentlicher Vertragsbestandteil, den man nicht mal eben mit der AGB-Klausel „Schweigen ist Zustimmung“ ändern könne. Und auch aus einem Sparvertrag könne nicht mal eben mit Hilfe von „Verwahrentgelten“ ein Produkt werden, für das ein Kunde zahlen müsse (statt Zinsen zu bekommen).

Was macht das Urteil so folgenschwer für Banken?

Den Kreditinstituten wird damit eine wesentliche Möglichkeit genommen, einfach und unkompliziert Entgelte neu einzuführen oder zu erhöhen – und dabei vor allem auf die Trägheit vieler Kunden zu setzen.

Aktiv Änderungen zu widersprechen setzt voraus,

erstens, dass der Kunde das Schreiben der Bank überhaupt liest,

zweitens, dass er sich zum Widerspruch entscheidet und

drittens, dass er auch bereit ist, die Konsequenzen seines Widerspruchs zu tragen, bis hin zur Beendigung der Geschäftsbeziehung durch die Bank.

Weil all das Mühe macht, verzichtet das Gros der Menschen auf einen Widerspruch. Auf diese Weise verkündete Änderungen gehen daher üblicherweise glatt durch, mit nur minimalen Reibungsverlusten. Als etwa die Union Investment vor einigen Jahren ihre fondsbasierte Riester-Rente nach dem „Opt-Out“-Prinzip vollständig umstellte und Kunden ohne Reaktion automatisch in ein neues Modell überführt wurden, widersprachen dem nur 2 Prozent der Anleger.

Nach neuesten Daten (2019) erwirtschaften deutsche Banken noch immer 73 Prozent ihrer Überschüsse im Zinsgeschäft und nur 27 Prozent in übrigen Bereichen wie dem Provisionsgeschäft. Gebühren und Provisionen sind für sie allerdings ein wesentlicher Hebel, ihre wachsenden Einbußen im Zinsgeschäft zu kompensieren. Diesen Hebel zu nutzen, wird für sie künftig schwieriger: Konsequent umgesetzt, müssen Kunden in Zukunft aktiv Änderungen zustimmen, damit sie gelten.

Über welche Summen reden wir?

Hier lässt sich nur eine grobe Näherung vornehmen. In aller Regel veröffentlichen Banken nicht detailliert, welcher Teil ihrer Provisionserträge bzw. -überschüsse auf Kontogebühren beruht. Die zur Verfügung stehenden Datenpunkte:

2019 stiegen die Provisionsüberschüsse aller deutsche Banken gegenüber dem Vorjahr um rund 1,7 Milliarden bzw. 5,8 Prozent, so die Daten der Deutschen Bundesbank. Von diesem Anstieg dürfte zumindest ein substanzieller Teil auch auf höhere Gebühren zurückzuführen sein, denn…

2019 stiegen die Preise für Bank- oder Sparkassendienstleistungen laut Statistischem Bundesamt um 4,7 Prozent, ein Zuwachs, der ungefähr dem der Vorjahre entsprach. Und da 2019 (anders als 2020) noch von keinem Wertpapierboom die Rede sein konnte, ist anzunehmen, dass sich große Teile dieser Steigerungen mit Preis- und Gebührenerhöhungen erklären lassen, die im Wege der Zustimmungsfiktion zustande kamen.

Kurzum: Eine Schätzung, wonach im schlimmsten Fall womöglich ein hoher, dreistelliger Millionenbetrag pro Jahr erstattet werden muss, dürfte nicht zu hoch gegriffen sein.

Sind auch Negativzinsen betroffen?

Formal ja, etwa in dem Sinne, dass ein Kunde, der auf einen Sparvertrag Zinsen bekam, für diesen nicht plötzlich Negativzinsen zahlen muss, nur weil er Änderungen nicht widersprochen hat.

Allerdings sind Deutschlands Geldhäuser bei der Einführung von Verwahrentgelten erheblich umsichtiger vorgegangen als bei Provisionsentgelten. In der Regel gelten Verwahrentgelte nur für Neukunden und -konten, während man Bestandskunden unberührt lässt. Alternativ gehen Institute – so die Commerzbank, die Deutsche Bank sowie andere Häuser, die über Einzelkunden mit sehr hohen Einlagen verfügen – auf Kunden zu und versuchen neue, individuelle Vereinbarungen zu treffen. Diese fallen naheliegenderweise nicht unter das BGH-Urteil.

Wie reagieren die Banken bisher?

Unterschiedlich: Zwei Institute, die zum 1. Mai Änderungen bei Preisen und Leistungen eingeführt haben – die Comdirect und die PSD Bank Nord – verzichten zunächst einmal auf die Einführung. Die ING Deutschland, die ebenfalls zum 1. Mai kleinere Entgeltänderungen eingeführt hat, behält diese hingegen bei. Auch die Sparkasse Dortmund setzt ihre für den 1. Mai angekündigten neuen Kontomodelle um. Die deutsche ING wie auch die Sparkasse Dortmund begründen ihr Vorgehen ähnlich: „Die Änderungen zum 1. Mai gelten, bis wir die Auswirkungen des BGH-Urteils für die AGB der Sparkasse analysiert haben. Diese Auswertung kann jedoch erst erfolgen, wenn die Urteilsgründe vorliegen“; heißt es etwa bei der Sparkasse Dortmund auf Nachfrage.

Auf die Urteilsbegründung zu warten – das ist auch die offizielle Linie der Deutschen Kreditwirtschaft (DK), der gemeinsamen Interessenvertretung aller deutschen Bankenverbände. “Eine weitergehende Analyse des Urteils sowie eine Bewertung seiner Auswirkungen werden erst möglich sein, wenn auch die Entscheidungsgründe des Urteils vorliegen. Diese werden nach der beim Bundesgerichtshof geübten Praxis regelmäßig erst einige Wochen nach der Verkündung des Urteils veröffentlicht”, teilt die DK auf Nachfrage mit.

Entsprechend können auch alle Banken noch etwas taktieren, die eine größere Änderung ihrer Kontenmodelle und Preise zum 1. Juli angekündigt haben. Dazu zählen zum Beispiel die Commerzbank oder die Sparkasse KölnBonn. Beide tasten die Änderungen fürs Erste nicht an und behalten sich eine Reaktion vor, sobald die Urteilsbegründung vorliegt.

Sind Fintechs und Neobanken die lachenden Dritten?

Nein, sie sind gleichermaßen betroffen, denn auch sie führen in ihren AGBs standardmäßig die entsprechenden Klauseln. Im Ton klingt das manchmal etwas kumpelhafter, in der Sache läuft es aber auch das Gleiche hinaus.

Ein paar Beispiele, exemplarisch für viele Fintechs zitiert:

N26: „Änderungen dieser Geschäftsbedingungen (…) werden dir spätestens zwei Monate vor dem vorgeschlagenen Zeitpunkt des Wirksamwerdens per E-Mail mitgeteilt. Deine Zustimmung gilt als erteilt, wenn du deine Ablehnung nicht vor dem vorgeschlagenen Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Änderungen angezeigt hast.“

Dwins (Betreiber von Finanzguru): „Die Zustimmung des Nutzers gilt als erteilt, wenn er seine Ablehnung nicht vor dem vorgeschlagenen Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Änderungen angezeigt hat.“

Weltsparen: „Die Zustimmung des Kunden gilt als erteilt, wenn der Kunde seine Ablehnung nicht vor dem vorgeschlagenen Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Änderung gegenüber Raisin angezeigt hat.“

Allerdings könnten Fintechs ihre Stärken ausspielen, wenn es darum geht, die Angebote in die „neue Welt“ zu überführen, in der Nutzer möglicherweise jeder Änderung aktiv zustimmen müssen – indem sie niederschwellige, digitale Lösungen genau dafür anbieten. Banken mit weniger digitalaffinen Kunden könnten hingegen Probleme bekommen, hohe Zustimmungsraten mit klassischen Kontaktmöglichkeiten (Brief, Rückantwort, Filiale) zu generieren.

Geht es nur um Entgelte?

Eben nicht – und diese Facette dürfte vor allem für Fintechs und Payment-Konzerne relevant sein, die nicht bei den Entgelten, sondern etwa dem Verkauf oder der Weitergabe von Daten Veränderungen erwägen. So kann es vorkommen, dass ein Geschäftsmodell mit kostenlosen Dienstleistungen oder Freemium-Basis nicht aufgeht. Dann entschließt sich ein Unternehmen womöglich, Erlöse über Modelle zu generieren, die bei Vertragsbeginn noch nicht bekannt und dokumentiert waren. In diesem Fall muss der Kunde den Änderungen künftig aktiv zustimmen.

„Das BGH-Urteil betrifft nicht nur Entgeltänderungen, sondern auch andere Vertragsänderungen. Grundsätzlich dürften Änderungen, die auf Grundlage solcher Klauseln durch Schweigen der Kunden zustande gekommen sind, unwirksam sein“, heißt es beim siegreichen VZBV.

Was ist mit schon gezahlten Gebühren?

Die Stiftung Warentest und das Portal Finanztip raten offensiv dazu, Banken bereits Briefe zu schicken, in denen man seit 1.1. 2018 womöglich nicht rechtmäßig erhöhte oder eingeführte Gebühren zuzüglich Zinsen zurückfordert. Dazu halten sie Musterbriefe bereit.

Tatsächlich kann sich aus dem Urteil auch ein Erstattungsanspruch ergeben. Ob dieser allerdings besteht – was für die GuVs der Banken eine Katastrophe wäre – lässt sich seriös erst sagen, wenn… genau… die Urteilsbegründung vorliegt. Selbst der VZBV sagt, erst dann lasse sich in „einer individuellen Prüfung“ einschätzen,  „ob und in welchem Umfang auf Grundlage des BGH-Urteils Gebührenerhöhungen zurückverlangt werden können“. Zum Anmelden der Ansprüche zum Beispiel für 2018 hätten Kunden zudem noch ein halbes Jahr Zeit. Sprich: Es bestehe keine Not zur Eile.

Der Kreis der betroffenen Häuser scheint immens. Fast alle Banken haben in den vergangenen drei Jahren da oder dort ihre Preise und Leistungen auf Basis der Zustimmungsfiktion geändert. Es dürfte eine rare Ausnahme sein, sollten Leistungsumfänge drei Jahre unangetastet geblieben sein. Das Vergleichsportal Biallo.de beobachtete 2020 punktuell, dass alleine in den ersten vier Monaten 400 von mehr als 1250 untersuchten Geldhäusern die Gebühren geändert hatten.

Sind Verbraucher also die großen Gewinner?

Verbraucher erhalten womöglich Geld zurück. Ganz sicher erhalten sie künftig mehr Transparenz. Und: Für Banken wird es künftig schwerer, Gebühren einzuführen und zu erhöhen. Es ist allerdings keineswegs ausgemachte Sache, dass dies für Kunden eine gänzlich positive Entwicklung ist. Der erwähnte Druck auf Kreditinstitute, höhere Gebühren durchzusetzen, um den Rückgang ihrer Zinsgewinne zu kompensieren – er wird nicht wegen des BGH-Urteils sinken. Daher ist im Umfeld vieler Banken zu hören, dass das Urteil allenfalls den bürokratischen Aufwand und damit die Kosten erhöhen werde, Gebührenänderungen durchzusetzen, sie aber nicht verhindern dürfte.

Eine mögliche Folge: Für Banken gilt (mit Ausnahme des Sparkassenlagers) grundsätzlich Vertragsfreiheit. Sie können daher Geschäftsbeziehungen zu Kunden ohne Angabe von Gründen beenden. Und ob respektive wie profitabel eine Kundenbeziehung ist, steht schon seit einiger Zeit im Zentrum der strategischen Überlegungen vieler Institute (wie bei der deutschen ING, der Commerzbank und anderen). Ist sie nicht (oder nicht ausreichend) profitabel, steigt die Neigung, sich vom Kunden zu trennen oder ihm über die Ausgestaltung der Gebühren nahe zu legen, sich doch ein anderes Haus zu suchen.

Diese Überlegungen dürften sich im Lichte des BGH-Urteils verschärfen: Dreht eine Bank bei bestimmten Kunden an der Gebührenschraube (etwa bei kostenlosen oder sehr günstigen Konten), bedarf dieser Schritt zwar künftig der Zustimmung. Doch die Versuchung, diesem Wunsch dadurch Nachdruck zu verleihen, dass die Bank dem Kunden im gleichen Zuge damit droht, bei Ablehnung die Geschäftsbeziehung zu beenden – diese Versuchung dürfte mit dem Richterspruch aus Karlsruhe deutlich gestiegen sein.