Tesla- und SpaceX-Gründer Elon Musk (Bild: IMAGO / USA TODAY Network)

Wie Elon Musk schon einmal mit X.com eine Finanz-Super-App bauen wollte

Elon Musk hat nach seinem Twitter-Kauf angekündigt, den Kurznachrichtendienst unter dem Namen X.com zu einer Super-App auszubauen. Damit geht er zurück in seine Vergangenheit, als Musk eine der ersten Onlinebanken aufbauen wollte. Einblicke in die Geschichte und die komplexe Persönlichkeit von Elon Musk gewährt nun der US-amerikanische Autor Walter Isaacson. Einen Auszug aus der vieldiskutierten Biografie „Elon Musk“ lest ihr heute bei Finance Forward. Es geht darin um Musks Anfänge in der Banken- und Fintechbranche Ende der 90-er Jahre, zusammen mit Wegbegleitern wie den Paypal-Gründern Peter Thiel und Max Levchin.

Die Allzweckbank

Als sein Cousin Peter Rive ihn Anfang 1999 besuchte, war Musk gerade in Bücher über das Bankensystem vertieft. „Ich bin am Überlegen, was ich als Nächstes anfangen soll“, erklärte er. Seine Erfahrungen bei der Scotiabank hatten ihn zu der Überzeugung gelangen lassen, dass die Branche reif für einen Umbruch war. Im März 1999 gründete er mit einem Freund aus der Bank, Harris Fricker, X.com.

Musk stand nun genau vor der Wahl, die er CNN gegenüber skizziert hatte: wie ein Multimillionär leben oder den vollen Einsatz auf dem Tisch lassen und ein neues Unternehmen gründen. Sein Kompromiss war, 12 Millionen Dollar in X.com zu investieren, sodass nach Steuern etwa 4 Millionen für ihn selbst übrig blieben.

Er hatte hochfliegende Pläne für X.com. Es sollte zur zentralen Anlaufstelle für alle finanziellen Bedürfnisse werden: Banking, Onlinekäufe, Girokonten, Kreditkarten, Investments und Kredite. Die Transaktionen würden sofort abgewickelt, ohne dass man auf die Freigabe der Zahlungen warten müsste. Seine Erkenntnis war, dass Geld nichts anderes sei als der Eintrag in eine Datenbank, und er wollte eine Methode entwickeln, bei der alle Transaktionen sicher und in Echtzeit erfasst und dokumentiert wurden. „Wenn man alle Gründe, warum ein Verbraucher Geld aus dem System nimmt, festlegt“, sagt er, „dann ist das der Bereich, in dem sich das Geld bewegt, und X.com wäre ein Multibillionen-Dollar-Unternehmen.“

Einige seiner Freunde waren skeptisch, dass eine Onlinebank mit einem Namen, der nach einer Pornoseite klang, Vertrauen erwecken könnte. Doch Musk liebte den Namen X.com. Statt allzu hintergründig wie Zip2, fand er den Namen schlicht, einprägsam und leicht zu tippen. Und er bekam eine der coolsten E-Mail-Adressen überhaupt: e@x.com. „X“ wurde sein Buchstabe für alles, egal, ob er Dingen, Unternehmen oder Kindern einen Namen zu geben hatte.

Musks Führungsstil hatte sich seit Zip2 nicht geändert, und er würde sich nie ändern. Seine nächtlichen Programmierorgien, gepaart mit einer Mischung aus Unverschämtheit

und Abgehobenheit tagsüber, veranlassten seinen Mitgründer Harris und die wenigen Mitarbeiter, ihn zum Rücktritt als CEO aufzufordern. Irgendwann antwortete Musk mit einer sehr selbstkritischen E-Mail. „Ich bin von Natur aus zwangsneurotisch“, schrieb er Fricker. „Für mich zählt nur, zu gewinnen, und das nicht zu knapp. Gott weiß, warum … wahrscheinlich liegt es an einem sehr beunruhigenden psychoanalytischen Schwarzen Loch oder einem neuronalen Kurzschluss.“

Da er die Mehrheitsbeteiligung hielt, setzte sich Musk durch, und Fricker ging, zusammen mit den meisten der Angestellten. Trotz des Aufruhrs schaffte Musk es, Michael Moritz, den einflussreichen Chef von Sequoia Capital, zu ködern und ihn zu einem größeren Investment in X.com zu bewegen. Moritz vermittelte Partnerverträge mit der Barclays Bank und einer Gemeinschaftsbank in Colorado, sodass X.com Anlagefonds anbieten konnte, eine Banklizenz besaß und beim Einlagensicherungsfonds der Vereinigten Staaten, der FDIC, versichert war. Mit 28 Jahren war Musk zu einem Start-up-Star geworden. In einem Artikel mit der Überschrift „Elon Musk Is Poised to Become Silicon Valley’s Next Big Thing“ („Elon Musk steht in den Startlöchern als der Nächste der Großen im Silicon Valley“) nannte das Magazin Salon ihn den „aktuellen It-Guy des Silicon Valley“.

Eine von Musks Managementtaktiken war, und ist es bis heute, eine irrsinnige Deadline festzulegen und die Mitarbeiter unter Druck zu setzen, sie einzuhalten. So machte er es im Herbst 1999, als er ankündigte, X.com werde am Thanksgiving-Wochenende an die Öffentlichkeit gehen, was einer der Programmierer einen „Arschloch-Move“ nannte. In den Wochen bis dahin lief er jeden Tag, inklusive Thanksgiving, hektisch und gereizt im Büro herum und schlief in den meisten Nächten unter seinem Schreibtisch. Einer der Programmierer, der an Thanksgiving erst nachts um zwei nach Hause gegangen war, erhielt um 11 Uhr am nächsten Tag einen Anruf von Musk: Er solle zurückkommen, weil ein anderer Programmierer die Nacht durchgearbeitet hätte und nun „nicht mehr auf vollen Touren“ laufe. Das Verhalten, d

as Musk an den Tag legte, erzeugte Spannungen und Groll, aber auch Erfolg. Als das Produkt an jenem Wochenende online ging, marschierten sie gemeinsam zum nächsten Geldautomaten. Musk schob seine X.com-Debitkarte in den Automaten, der spuckte Bargeld aus, und das Team feierte.

Überzeugt davon, dass Musk die Aufsicht eines Erwachsenen brauchte, überredete Moritz ihn, sich im folgenden Monat zurückzuziehen und Bill Harris, dem früheren Chef von Intuit, die Geschäftsführung zu überlassen. In einer Neuauflage der Ereignisse bei Zip2 blieb Musk Chef der Entwicklungsabteilung und Vorsitzender des Boards und hielt die fieberhafte Geschwindigkeit aufrecht. Einmal ging er nach einem Meeting mit Investoren in die Cafeteria, wo er ein paar Arcade-Spielautomaten aufgestellt hatte. „Da spielten einige von uns mit Elon Street Fighter“, erzählt Finanzchef Roelof Botha. „Er schwitzte, und man konnte sehen, welch ein Bündel an Energie und innerer Anspannung er war.“

Musk entwickelte virale Marketingtools, einschließlich Prämien für Nutzer, die Freunde warben. Und er träumte davon, aus X.com sowohl einen Finanzdienstleister als auch ein soziales Netzwerk zu machen. Wie Steve Jobs war er ein leidenschaftlicher Verfechter von Einfachheit, wenn es um die Gestaltung der Benutzeroberflächen ging. „Ich habe die Benutzeroberfläche so optimiert, dass die Eröffnung eines Kontos möglichst wenige Eingaben erforderte“, erzählt er. Ursprünglich musste man lange Formulare ausfüllen und unter anderem eine Sozialversicherungsnummer und eine Anschrift angeben. „Wozu brauchen wir das?“, fragte Musk immer wieder. „Streichen!“ Ein kleiner, wichtiger Meilenstein war, dass die Kunden keine Benutzernamen brauchten. Ihre E-Mail-Adresse erfüllte denselben Zweck.

Ein weiterer Erfolgsfaktor war eine Funktion, die sie zunächst nicht für eine große Sache gehalten hatten: die Möglichkeit, per E-Mail Geld zu verschicken. Das wurde sehr populär, vor allem auf der Verkaufsplattform eBay, wo die User nach unkomplizierten Wegen suchten, die von Fremden gekaufte Ware zu bezahlen.

Max Levchin und Peter Thiel

Als Musk die Namen der Neukunden prüfte, die sich angemeldet hatten, fiel ihm einer ins Auge: Peter Thiel. Er gehörte zu den Gründern einer Firma namens Confinity, die ihren Sitz ursprünglich im selben Gebäude hatte wie X.com, inzwischen aber in der gleichen Straße ein paar Häuser weiter gezogen war. Thiel und sein wichtigster Mitgründer Max Levchin standen Musk an fieberhafter Betriebsamkeit in nichts nach, waren allerdings disziplinierter. Wie X.com bot ihre Firma einen Zahlungsdienst von Kunde zu Kunde an. Die Version von Confinity hieß PayPal.

Anfang 2000, als es erste Anzeichen dafür gab, dass die Luft in Sachen Internet raus war, konkurrierten X.com und PayPal um neue Kunden. „Es war ein völlig irrer Wettkampf, bei dem wir beide wahn- sinnige Bonuszahlungen anboten, um Neukunden zu gewinnen und Freunde zu werben“, erzählt Thiel. Musk schilderte es später so: „Es war ein Wettstreit, wem zuletzt das Geld ausgeht.“

Musk ließ sich mit der Fieberhaftigkeit eines Videospielers auf den Kampf ein. Thiel dagegen war eher der kühl Kalkulierende und ver- suchte, die Risiken zu minimieren. Bald wurde beiden klar, dass gemäß dem Netzwerkeffekt – das Unternehmen, das zuerst groß wird, wächst dann umso schneller – nur einer überleben konnte. Es wäre also sinnvoller zu fusionieren, als den Wettstreit in ein Mortal-Kombat-Spiel kippen zu lassen.

Musk und sein neuer CEO Bill Harris vereinbarten in einem Hinterzimmer des Evvia – ein griechisches Lokal in Palo Alto – ein Treffen mit Thiel und Levchin. Sie tauschten sich über die Anzahl ihrer Nutzer aus, wobei Musk sich zu seinen üblichen Übertreibungen hinreißen ließ. Thiel fragte ihn, wie er sich die Bedingungen für eine mögliche Fusion vorstelle. „Wir besitzen 90 Prozent des fusionierten Unternehmens und Sie 10 Prozent“, antwortete Musk. Levchin wusste nicht recht, was er von Musk halten sollte. War das sein Ernst? Sie hatten ungefähr die gleiche Anzahl an Nutzern. „Er machte ein sehr ernstes Ich-mache-keine-Witze-Gesicht, aber darunter schien sich doch ein ironischer Zug zu verbergen“, erzählt Levchin. Oder, wie Musk später gestand: „Wir spielten ein Spiel.“

Nachdem das PayPal-Team das Lokal verlassen hatte, sagte Levchin zu Thiel: „Das können wir vergessen, lass uns weitermachen.“ Thiel, der Menschen besser einschätzen konnte, entgegnete: „Das war nur das Eröffnungsspiel. Man muss mit Typen wie Elon nur Geduld haben.“

Das gegenseitige Umwerben setzte sich den gesamten Januar 2000 über fort und führte dazu, dass Musk seine Flitterwochen mit Justine verschob. Michael Moritz, der Hauptinvestor von X.com, beraumte ein Treffen der beiden Lager in seinem Büro in der Sand Hill Road an. Musk nahm Thiel in seinem McLaren mit.

„Und, was steckt so in dem Auto?“, wollte Thiel wissen.

„Das hier“, antwortete Musk, wechselte auf die Überholspur und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Das Heck brach aus, das Auto schleuderte, prallte gegen eine Böschung und flog wie eine fliegende Untertasse durch die Luft. Teile der Karosserie wurden abgerissen. Thiel, ein praktizierender Libertärer, war nicht angeschnallt, blieb aber unversehrt. Er schlug sich per Anhalter bis zum Sitz von Sequoia durch. Musk, der ebenfalls unverletzt geblieben war, blieb zurück, um sein Auto abschleppen zu lassen, und kam erst eine halbe Stunde später an. Harris gegenüber verlor er kein Wort über das, was passiert war. Später konnte Musk darüber lachen: „Immerhin hat es Peter gezeigt, dass ich keine Risiken scheue.“ Thiel meint dazu:„Tja, ich habe gemerkt, dass er ein bisschen irre ist.“

Musk sträubte sich weiter gegen die Fusion. Auch wenn beide Firmen um die 200000 Kunden hatten, die auf eBay elektronisch bezahlten, glaubte er, dass X.com mehr wert sei, weil es ein breiteres Spektrum an Bankdienstleistungen anbot. Dies führte zu einem Konflikt mit Harris, der irgendwann mit Rücktritt drohte, als Musk versuchte, die Fusionsgespräche zu vereiteln. „Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn er ausgestiegen wäre“, erklärt Musk rückblickend, „denn wir mussten, gerade als die Internetbranche schwächelte, mehr Finanzmittel auftreiben.“

Der Durchbruch kam, als Musk mit Thiel und Levchin bei einem weiteren Mittagessen ein verbindendes Erlebnis hatte. Sie waren im Il Fornaio, einem feinen italienischen Restaurant in Palo Alto mit weißen Tischdecken. Da sie eine Ewigkeit nicht bedient wurden, marschierte Harris in die Küche, um etwas zu essen zu organisieren. Musk, Thiel und Levchin tauschten fragende Blicke aus. „Hier der extrem extrovertierte Unternehmertyp, der so tat, als hätte er ein S auf der Brust, wir anderen drei dagegen ziemlich nerdig«, erzählt Levchin. „Wir fühlten uns verbunden, weil wir Typen waren, die sich niemals wie Bill verhalten hätten.“

Sie einigten sich auf eine Fusion, bei der X.com 55 Prozent der gemeinsamen Firma bekommen sollte, doch Musk hätte beinahe alles wieder ruiniert, indem er zu Levchin sagte, er habe ein „Schnäppchen“ gemacht. Wütend drohte Levchin damit, auszusteigen. Harris fuhr ihn nach Hause und half ihm beim Wäschefalten, was Levchin beruhigte.

Die Bedingungen wurden noch einmal überarbeitet. Am Ende stand eine 50:50-Fusion, allerdings sollte X.com der überlebende Unternehmensteil werden. Im März 2000 wurde das Geschäft abgeschlossen, Musk als größter Anteilseigner wurde Vorsitzender des Boards. Einige Wochen später schloss er sich mit Levchin zusammen, um Harris hinauszudrängen und auch die Rolle des CEO zu übernehmen. Die Aufsicht durch einen „Erwachsenen“ war nicht länger erwünscht.

PayPal

Die elektronischen Bezahlsysteme der beiden Unter nehmen wurden zusammengelegt und firmierten unter dem Markennamen PayPal. Das Bezahlsystem wurde zum Hauptangebot der Company, die rasch weiterwuchs. Doch ein Nischenprodukt war nicht das, was Musks Natur entsprach. Er wollte die gesamte Branche umgestalten. Also konzentrierte er sich wieder auf sein ursprüngliches Ziel, ein soziales Netzwerk zu schaffen, das die gesamte Finanzbranche verändern würde. „Wir müssen uns entscheiden, ob wir große Ziele verfolgen wollen“, verkündete er vor seiner Mannschaft. Einige fanden diese Formulierung irreführend. „Auf eBay hatten wir ein hohes Aufkommen“, berichtet Reid Hoffman, ein früher Mitarbeiter, der später LinkedIn mitgründete. „Max und Peter wollten, dass wir uns ganz darauf fokussieren und zum führenden Handelsdienstleister werden.“

Musk beharrte auf dem Firmennamen X.com mit PayPal lediglich als Tochtermarke. Er versuchte sogar, das Bezahlsystem in X-PayPal umzubenennen. Es gab eine Menge Widerstand, vor allem von Levchin. PayPal war inzwischen eine vertrauenswürdige Marke, der gute Kumpel, denn das bedeutet das englische Wort pal, der einem hilft, sein Geld zu erhalten. Zielgruppenanalysen hatten gezeigt, dass der Name X.com im Gegensatz dazu eher mit zwielichtigen Websites in Verbindung gebracht wurde, die man in gepflegter Konversation nicht erwähnen konnte. Doch Musk blieb unerschütterlich und ist es bis heute geblieben: „Wenn man nur ein Nischenbezahlsystem sein will, ist PayPal besser. Aber wenn man das globale Finanzsystem übernehmen will, ist X der bessere Name.“

Musk und Michael Moritz begaben sich nach New York, wo sie Rudy Giuliani, der gerade seine Amtszeit als Bürgermeister beendet hatte, als politischen Mittelsmann gewinnen wollten. Er sollte sie auch durch die politischen Feinheiten des Bankgeschäfts führen. Doch schon als sie in sein Büro kamen, wussten sie, dass nichts daraus werden würde. „Es war, als wäre man in eine Massenszene geraten“, erzählt Moritz. „Giuliani war von schmierigen Vertrauensleuten umringt. Vom Silicon Valley hatte er nicht den Hauch einer Ahnung, aber sich die Taschen füllen, das wollten er und seine Gefolgsleute absolut.“ Sie forderten einen zehnprozentigen Anteil am Unternehmen, und das war das Ende der Begegnung. „Der Typ lebt auf einem anderen Planeten“, meinte Musk zu Moritz.

Musk strukturierte das Unternehmen so um, dass es keine separate Technikabteilung mehr gab. Stattdessen arbeiteten Ingenieure und Entwickler mit den Produktmanagern im Team. Eine Philosophie, die er später auf Tesla, SpaceX und noch später auf Twitter übertragen sollte. Das Design eines Produkts von der Technik zu trennen, war seiner Auffassung nach ein Rezept für Dysfunktionalität. Die Designer sollten die Probleme unmittelbar spüren, wenn etwas, das sie entwickelt hatten, schwer zu realisieren war. Dass Ingenieure und nicht die Produktmanager das Team führten, hatte Konsequenzen, die bei Raketen gut funktionierten, bei Twitter allerdings weniger.


Aus: Walter Isaacson „Elon Musk. Die Biografie. 832 Seiten, durchgehend bebildert. 38,00 Euro. Erschienen bei C.Bertelsmann.