Das Ant-Imperium
Es wird einer der größten IPOs der Geschichte: Der Fintech-Gigant Ant Financial geht an die Börse. Im Verkaufsprospekt zeigt sich, wie ausufernd groß das Unternehmen geworden ist.
Das Logo der Ant Group zeigt eine blaue Ameise mit einem großen Auge und einem Lächeln im Gesicht. Das Insekt soll die Firmenphilosophie hinter Ant symbolisieren: Viele kleine Mitglieder werden gemeinsam stark, wenn sie zusammenarbeiten – wie in einem Ameisenstaat.
In diesem Bild dürfte Ant wohl die Königin sein. Mit dem Bezahldienst Alipay ist der Konzern neben Tencent zu einem der dominierenden Kräfte auf dem chinesischen Bezahlmarkt geworden. Nun will das Unternehmen an die Börse gehen und 30 Milliarden Dollar einnehmen. Mit einer angepeilten Bewertung von 200 Milliarden Dollar wäre es einer der größten Börsengänge der Geschichte.
Trotz seiner Dominanz war Ant lange Zeit ein höchst verschlossenes Unternehmen. Der IPO-Prospekt erlaubt nun erstmals einen Blick hinter die Kulissen – und gibt eine Antwort auf die Frage: Was ist Ant eigentlich? Denn der Konzern ist heute weit mehr als ein einfacher Zahlungsabwickler. Er ist Kreditgeber, Versicherer und Broker in einem geworden.
„Schatz“ oder „Vampir“?
Zwei Jahre später stieg Alipay in das Investmentgeschäft ein, kaufte sich eine Mehrheit an einer chinesischen Vermögensverwaltung und startete den ersten eigenen Fonds. Alipay-Nutzer konnten bereits ab einem Yuan, umgerechnet knapp zwölf Cent, in den Fonds namens Yu‘e Bao investieren. Übersetzt bedeutet der Name „restlicher Schatz“. Daraus wurde der größte Geldmarktfonds der Welt. Nach nur vier Jahren verwaltete Yu‘e Bao 165 Milliarden US-Dollar, mehr Menschen investierten in ihn, als Deutschland Einwohner hat. Schließlich verschärften die Regierungsbehörden die Vorschriften des Fonds, um ihn zu schrumpfen. Er sei ein „blutsaugender Vampir“, der dem System Stabilität entziehe, soll ein Kommentator des Staatsfernsehens gesagt haben.
2014 nannte sich Alipay in Ant Financial um. Das sollte die Entwicklung des Unternehmens symbolisieren: von einem Zahlungsanbieter hin zu einem Finanzkonzern mit allen dazugehörigen Bereichen. Konsequent erweiterte Ant sein Portfolio, wurde zum Kreditgeber und entwickelte ein eigenes Scoring-System für Kreditwürdigkeit.
Bis heute hat der ehemalige Mutterkonzern Alibaba einen hohen Stellenwert für Ant. Der E-Commerce-Gigant war während der vergangenen drei Jahre der größte Kunde, 2019 war Alibaba für 8,1 Prozent des Umsatzes der Ant-Gruppe verantwortlich. Alibaba, an dem auch der Gründer Jack Ma beteiligt ist, gehört immer noch ein Drittel des Unternehmens.
Das heutige Ant besteht aus vier Segmenten: Zahlungsabwicklung, Vermögensverwaltung, Versicherung und Kreditgeschäft. Und dem IPO-Prospekt lässt sich entnehmen, dass sich die Gewichte dabei innerhalb des Konzerns weiter verschieben: Während 2017 die Zahlungsabwicklung noch mehr als die Hälfte des Umsatzes ausmachte, waren es im ersten Halbjahr 2020 nur noch 36 Prozent. Hingegen läuft das Kreditgeschäft immer besser – der Anteil am Umsatz hat sich in derselben Zeit von 25 Prozent auf fast 40 Prozent erhöht.
Zwei sind noch größer
Das bedeutet nicht, dass Ants Zahlungsabwicklungsgeschäft im Schrumpfen begriffen wäre – im Gegenteil: 2019 hat Alipay mehr als 111 Billionen Yuan abgewickelt. Zum Vergleich: Chinas Bruttoinlandsprodukt lag im vergangenen Jahr bei 99 Billionen Yuan.
711 Millionen Menschen nutzen die App mindestens einmal im Monat. Pro Jahr kommen im Durchschnitt zehn Prozent neue Nutzer dazu. Im Bezug auf die Nutzerzahlen wird Alipay nur von zwei weiteren chinesischen Unternehmen geschlagen: Tencent und der staatlichen Agricultural Bank of China. Global gesehen kommt kein westliches Unternehmen auch nur in diese Nähe. Die amerikanische Citigroup zählt 200 Millionen Kunden, die Sparkassen-Finanzgruppe 50 Millionen und die niederländische ING 39 Millionen. Alipay allein ist damit eines der größten Finanzinstitute auf der Welt.
Gegenüber traditionellen Banken setzt sich Alipay durch eine schlanke Gebührenstruktur ab. Wie auch Konkurrent WeChat Pay ist die Lösung günstiger für alle Parteien. So schätzte die Investmentbank Goldman Sachs 2017 in einer Studie, dass Kundenzahlungen, die mit den E-Wallets abgewickelt werden, für Händler in China bis zu ein Drittel billiger seien als mit traditionellen Kredit- oder Debitkarten. Dabei sei die Nettomarge für Alipay oder WeChat höher als bei traditionellen Banken – weil weniger Parteien an dem Vorgang beteiligt seien. Es ist das Erfolgsrezept von Alipay: die günstigere und schnellere Bank zu sein. Mehr als 80 Millionen Händler nutzen das System.
Der chinesische Markt für Zahlungsabwicklungen ist dabei nicht mit dem Westen zu vergleichen. Goldman Sachs rechnet vor, dass Händler in China maximal 0,6 Prozent Gebühren pro Transaktion zahlen, wohingegen Verkäufer in den USA bis zu drei Prozent abgeben müssen, wenn ihre Kunden mit Kreditkarte oder Paypal zahlen. Tencents WeChat Pay ist im Hinblick auf Volumen und Nutzer größer als Alipay. Doch für Ant liegen die gewinnbringenden Bereiche inzwischen ohnehin woanders.
30 Prozent Nettomarge
Denn mit steigendem Anteil des Kreditgeschäftes steigt auch die Bruttomarge: Von 50 Prozent in 2019 auf 59 Prozent im ersten Halbjahr 2020. 1,7 Billionen Yuan (204 Milliarden Euro) wurden über Ant zum Stichtag am 30. Juni 2020 verliehen. Das Kreditgeschäft funktioniert so: Nutzer beantragen einen Kredit über Alipay, anschließend wickeln mehr als 100 Partnerbanken das Geschäft ab oder die Darlehen werden verbrieft und weiterverkauft.
„Wir wollen nicht unsere eigene Bilanz verwenden oder Garantien geben“, erklärt das Unternehmen dazu. Ant versucht so, das Risiko auszulagern und, sieht sich lediglich als intelligenten Makler zwischen Kunde und Bank, dabei nutzt es nach eigenen Angaben künstliche Intelligenz und seine Bewertungssysteme. 98 Prozent der beantragten Kredite reicht Ant so weiter. Dafür erhält es eine Gebühr und die Kundendaten. Auf den eigens geschaffenen Kreditscore „Zhima Credit“ geht Ant im gesamten mehr als 650 Seiten umfassenden Prospekt allerdings nicht weiter ein.
Auch im Investmentbereich verdient das Unternehmen Gebühren an Kundentransaktionen. Entweder kann in den eigenen Yu‘e Bao Fonds eingezahlt werden oder Ant vermittelt eines der Investmentprodukte der 80 kooperierenden Vermögensverwalter. Je mehr Volumen die Kunden handeln, desto mehr wird verdient. Mehr als vier Billionen Yuan (rund 492 Milliarden Euro) verwalten das Unternehmen und seine Partner zurzeit.
Was die einzelnen Segmente unter dem Strich beitragen, lässt sich aus dem Prospekt nicht erkennen. Lediglich die Umsatzzahlen werden aufgeschlüsselt. So bleibt auch offen, ob das Produkt Alipay in dem hart umkämpften Markt der chinesischen Zahlungsabwickler profitabel operieren kann. Die Ant-Gruppe als Ganzes schreibt schwarze Zahlen. 2019 stand bei einem Umsatz von 120 Milliarden Yuan (14,47 Milliarden Euro) ein Gewinn von 18 Milliarden Yuan (2,17 Milliarden Euro) in der Bilanz, das entspricht einer Nettomarge von 15 Prozent. 2020 dürfte noch einmal besser laufen: Im ersten Halbjahr verdiente die Gruppe bereits 22 Milliarden Yuan (2,6 Milliarden Euro) bei einer Nettomarge von 30 Prozent.
Ants großes Ziel ist offensichtlich: Kunden sollen die App nicht mehr verlassen müssen – egal, ob es darum geht, einen Kaffee zu kaufen, einen Kredit zu beantragen, das Monatsgehalt zu investieren oder eine neue Krankenversicherung abzuschließen. Und Ant, die Ameisenkönigin, wird dabei immer stärker werden.