Europäische Blockchain-Hoffnung Dfinity launcht LinkedUp, eine dezentrale LinkedIn-Alternative
Wird das mal größer als Ethereum? Nach fünf Jahren Entwicklung präsentiert das Züricher Dfinity-Projekt am Donnerstag seine erste Anwendung. Die Erwartungen sind immens.
Zu den großen, hehren Zielen der Blockchain-Community gehört seit jeher die Befreiung der Nutzer aus der vermeintlichen Unterdrückung durch „Big Tech“. Die revolutionäre Technologie, so verkünden es ihre Fans seit Jahren, werde nicht nur die Welt der Fiatwährungen aus den Angeln heben, sondern auch die Macht von Digitalmonopolisten wie Facebook oder Google brechen. Nur: Passiert ist dahingehend bislang kaum etwas.
Auch Dominic Williams, ein großgewachsener, stets schwarz gekleideter Brite mit angegrauten Haaren, ärgert sich gerne über das „monopolistische und geschlossene Internet“, das von „einer Handvoll von profitorientierten Unternehmen“ kontrolliert werde. Ihnen will er ein neues, dezentrales Netzwerk entgegensetzen. Daran arbeitet er seit 2015 mit seinem inzwischen mit zwei Milliarden Dollar bewerteten Dfinity-Projekt, und damit zieht er über die Tech-Konferenzen der Welt.
VC-Gelder statt Schwarmkapital
Damit soll LinkedUp die Möglichkeiten der Dfinity-Architektur demonstrieren: Mithilfe der bereits 2019 veröffentlichten eigenen Programmiersprache Motoko und der ebenfalls 2019 gelaunchten Entwicklungsbibliothek (ein sogenanntes SDK) hätten „anderthalb Programmierer“ gerade einmal drei Wochen gebraucht, um LinkedUp zu entwickeln. Und: Mit der neuen Netzwerkarchitektur von Dfinity, die Williams „Internet-Computer“ nennt, würden Cloud-, Content-Distribution- oder DNS-Dienste überflüssig – also all die teuren Dienstleistungen von Big Tech, auf die man angewiesen ist, wenn man eine neue Website oder ein neues Geschäftsmodell über das Internet anbieten will.
Williams scheut sich nicht, den Mund voll zu nehmen. Aber er kann natürlich auch schon etwas vorweisen: Neben der am Donnerstag präsentierten ersten Anwendung ist das vor allem das Vertrauen etablierter Investoren – die in Zürich ansässige Dfinity-Stiftung hat sich überwiegend mit VC-Geldern finanziert und nicht mit Schwarmkapital aus ICOs. Damit wurden Williams und sein Team auch einer echten Due Diligence unterzogen. Prominentester Investor ist der Krypto-Arm des legendären Silicon-Valley-VCs Andreessen Horowitz, daneben sind Polychain Capital und SV Angel beteiligt; insgesamt flossen knapp 200 Millionen Dollar in Dfinity, die Bewertung liegt bei zwei Milliarden Dollar. In der Szene setzt man große Stücke auf das Projekt, vermutlich sind die Erwartungen an kein anderes europäisches Blockchain-Unterfangen so groß.
Funktionieren soll der Internet-Computer über ein von Dfinity entwickeltes Protokoll (ähnlich dem TCP/IP-Protokoll, das Internet-Provider verknüpft) und dank einer Vielzahl von unabhängigen Rechenzentren, die dem System Kapazitäten zur Verfügung stellen und dafür mit Token belohnt werden. Die Idee hat Dfinity aus der Blockchain-Welt entlehnt – ansonsten betont Williams vor allem die Unterschiede zur Krypto-Szene. „Du kannst kein offenes LinkedIn auf der Blockchain bauen“, erklärte der Gründer Finance Forward am Rande der Münchner DLD-Konferenz am vergangenen Wochenende. „Du kannst das nur auf dem Internet-Computer tun.“ Auch wenn Dfinity zu Beginn von Ethereum inspiriert und beeinflusst worden sei (am Anfang galt Dfinity als Ethereums „verrückte Schwester“), gebe es heute in der Blockchain-Welt „kein Projekt, das auch nur annähernd etwas Ähnliches baut“. Selbst das in der Szene gehypte Polkadot-Projekt aus Berlin sei „im Umfang viel begrenzter“.
Als große Stärke von Dfinity gilt der neu entwickelte Konsensus-Algorithmus, mit dem Transaktionen im Netzwerk validiert werden und der 72-mal so schnell sein soll wie der von Ethereum. Damit würde Dfinity das Skalierungsproblem, vor dem Bitcoin und Ethereum stehen, lösen. Hinter der Technologie stehen neben Williams große Szenenamen wie der Aachener Mathematikprofessor Timo Hanke, der langjährige IBM-Mann Jan Camenisch sowie die Entwicklerin Mahnush Movahedi. Das Team mit Standorten in Zürich, San Francisco und Palo Alto ist mehr als 100 Mitarbeiter groß (für bestimmte Bereiche „das stärkste Team der Welt“, sagt Williams, stärker als IBM oder Google).
Die API als Türöffner
Allerdings: Selbst wenn das Netzwerk problemlos laufen sollte, die große Frage bleibt, wie Dfinity Anbieter überzeugen will, auf seiner Architektur zu entwickeln – und wie diese Nutzer anziehen sollen. Um beim Beispiel zu bleiben: Wer schon ein LinkedIn-Profil hat und sämtliche relevanten Kontakte im bestehenden Netzwerk finden kann, für den gibt es kaum Anreize, zur offenen Alternative LinkedUp zu wechseln.
Oder doch? Williams glaubt, dass LinkedUp durch sein besseres Produkt punkten wird. „Es wird einige Nutzer anziehen durch die Art und Weise, wie Daten auf LinkedUp verarbeitet werden“, sagt er. Der Clou aber soll der offene Charakter des Netzwerks sein, der dazu führen soll, dass unzählige Gründer und Investoren rund um LinkedUp neue Dienste und Produkte entwickeln werden. Das Gesamtpaket biete dann „mehr Funktionalität, mehr Nutzen“, LinkedUp damit „ein besserer Ort für Nutzer, um ihre professionellen Profile zu erstellen“.
Funktionieren soll das, indem LinkedUp eine offene Programmierschnittstelle (API) garantiert, damit andere Dienste Daten weiterverwenden können und Startups darauf basierend neue Geschäftsmodelle entwickeln können. Auch bei LinkedIn gab es eine Vielzahl von Services, die über eine API auf die Nutzerprofile zugriffen und für ihre eigenen Modelle verwendeten. Mit der Übernahme durch Microsoft schloss das Unternehmen die Schnittstelle aber für die allermeisten Anbieter (mit Ausnahme etwa von Salesforce) – die damit zu Hunderten ihren Dienst einstellen mussten. Williams nennt das das „Plattformrisiko“, wie bei der Spielefirma Zynga, die mit Facebook-Games groß wurde und schließlich, nach ein paar Änderungen auf der Plattform, an dieser Abhängigkeit fast zugrunde ging. „Die Achillesferse der monopolistischen Big-Tech-Firmen ist, dass sie keine APIs garantieren können“, sagt Williams.
Das mag stimmen – die Frage ist, wie viele Unternehmen wirklich akut unter einer Big-Tech-Abhängigkeit leiden und ob ihr Leidensdruck stark genug ist, um in das offene Netz von Dfinity zu wechseln. Williams gibt sich sicher: „CIOs und Konzern-IT-Leute können Big Tech nicht entkommen.“ Er spüre daher eine „wahnsinnige Nachfrage“ nach dem Internet-Computer. Er will die IT-Entscheider auch damit überzeugen, dass der Softwarebetrieb auf dem neuen System sicherer und letztlich billiger sein soll. Aber er gibt auch zu: Die Adoption „wird Jahre dauern“. Der nächste Schritt, kündigt Williams an, wird der Launch des endgültigen Netzwerks im dritten Quartal sein. Dann sollen eine ganze Reihe von Rechenzentrenbetreiber dabei sein.
„Dfinity bohrt gerade definitiv eines der dicksten Bretter in der Blockchain-Welt überhaupt“, sagte Deloitte-Experte Dirk Siegel der deutschsprachigen Ausgabe von Forbes. „Wenn das aber klappt, wird das zu einer alles durchdringenden Veränderung der Gesellschaft führen.“ Und damit wirklich eines der großspurigen Blockchain-Versprechen einlösen.
Bild: “SM0_3002” by collision.conf is licensed under CC BY 2.0