Fabio De Masi setzt sich seit Jahren mit dem Cum-Ex-Skandal auseinander (Bild: imago/PR, Collage: FinanceFWD)

Cum-Ex: Die Spur des Geldes und der Bundeskanzler

Als Olaf Scholz noch Erster Bürgermeister in Hamburg war, verzichtete seine Finanzbehörde auf eine Rückforderung über 47 Millionen Euro an die Warburg Bank im Zusammenhang mit Cum-Ex-Geschäften. Das könnte den heutigen Bundeskanzler noch einholen, kommentiert Fabio De Masi. In regelmäßigen Abständen schreibt der ehemalige Abgeordnete und Wirecard-Aufklärer für Finance Forward über aktuelle Finanz- und Fintechtrends. Mit dem Cum-Ex-Skandal setzt er sich bereits seit Jahren auseinander.

Niemand wird in den Vorstandsetagen deutscher Banken und in der Politik mehr gefürchtet als die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker. Die Frau, die hinter der Brille und ihrem freundlichen Lächeln eher an eine belesene Bibliothekarin erinnert, nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie nennt Cum-Ex-Aktiendeals Organisierte Kriminalität.

Denn Banken oder Fonds haben unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Erstattung der Kapitalertragssteuer, die auf Dividenden anfällt, die Inhaber von Aktien kassieren. Das soll eine doppelte Besteuerung vermeiden, etwa weil die Gewinne bereits im Ausland besteuert wurden.

Das hat institutionelle Investoren zu einem kreativen Cum-Ex-Aktien-Karussell verleitet. Anders gesagt: Ich gebe eine Flasche Bier im Supermarkt ab, kopiere den Pfandbon und schicke meine Freunde zur Supermarktkasse, um mehrfach abzukassieren. Mit dem Unterschied, dass es um Milliarden geht. (Eine genauere Erklärung der Cum-Ex-Abläufe könnt ihr unter dieser Kolumne lesen.)

Viele Jahre blieb die Gesetzeslücke zu Cum-Ex-Geschäften offen und wurde sogar durch ein Schlupfloch unter Einfluss der Bankenlobby verlängert. Bis heute gibt es ähnliche Gestaltungen, da die Finanzverwaltung immer noch nicht befähigt wurde, Erstattungsanträge und tatsächlich bezahlte Kapitalertragssteuern abzugleichen. Diese Geschäfte holen nun die Politik ein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Erinnerungslücken von Olaf Scholz, auch wenn es Verbindungen weiterer Politiker zur Cum-Ex-Mafia gab. Aber was ist eigentlich passiert?

Olaf Scholz ist der beste Kronzeuge einer politischen Einflussnahme

Bei der Warburg-Affäre geht es um Treffen zwischen dem damaligen Ersten Bürgermeister Hamburgs und aktuellen Bundeskanzler, Olaf Scholz, sowie dem damaligen Mit-Eigentümer der Warburg Bank, Christian Olearius. Zum Zeitpunkt der Treffen von Scholz mit dem Cum-Ex-Bankier hatte bereits eine Razzia bei der Warburg Bank stattgefunden und Olearius wurde als Beschuldigter in Cum-Ex-Ermittlungen geführt.

Die Finanzbeamtin Daniela P. hatte, laut den beschlagnahmten Tagebüchern des Bankiers Olearius diesem geraten, sich an die Politik zu wenden, da sie die Cum-Ex-Tatbeute rückfordern müsse, nachdem Finanzgerichte anfingen, die Cum-Ex-Geschäfte zu durchschauen, so berichtete es das Manager Magazin. P. schrieb zunächst ein umfangreiches Gutachten, das die Einziehung der Tatbeute vorsah.

Olearius kontaktierte daraufhin unter anderem den damaligen Hamburger SPD-Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs, in dessen Schließfach bei der Hamburger Sparkasse Ermittler kürzlich mehr als 200.000 Euro Bargeld fanden. Allerdings ist die Herkunft des Geldes unklar. Sicher ist nur: Bei Einzahlung auf ein Konto hätte Kahrs die Herkunft des Geldes deklarieren müssen.

Kahrs sollte Scholz Berichten zufolge ausweislich der Tagebücher inhaltlich auf das Anliegen der Warburg Bank vorbereiten. Später sammelte Kahrs Parteispenden der Warburg Bank – beziehungsweise von Olearius – ein, die bis heute nicht von der SPD zurückgezahlt wurden.

Scholz nahm von Olearius ein Schreiben der Warburg Bank entgegen. Das Schreiben richtete sich gegen die Steuerforderung und lag auch für Scholz ersichtlich im Finanzamt bereits vor. Scholz rief Olearius etwa zwei Wochen später an, und forderte ihn auf, das Schreiben „ohne weitere Kommentare“ an den damaligen Finanzsenator und heutigen Ersten Bürgermeister Hamburgs, Peter Tschentscher, weiterzuleiten. Der reichte das Schreiben mit Anmerkungen in die Finanzverwaltung herunter. Kurz danach kippte die Entscheidung, die Tatbeute einzuziehen. Die Betriebsprüfer der Bank liefen gegen diese Entscheidung Sturm.

Olaf Scholz ist der beste Kronzeuge einer politischen Einflussnahme: Er hat gegenüber dem Enthüllungsjournalisten Oliver Schröm mitgeteilt, dass er das Schreiben ja bewusst nicht in die Finanzverwaltung gereicht hätte, da die Weiterleitung eines solchen Schreibens durch ihn als Politiker als politische Einflussnahme auf ein Steuerverfahren gewertet werden könne. (Quelle: Schröm – Die Cum-Ex-Files, S. 317) Genau das hat aber Peter Tschentscher nachweislich getan.

„Ich kann meine Beute nicht rausrücken, sonst bin ich bankrott!“

Mittlerweile wurden Whatsapp-Nachrichten der Finanzbeamtin Daniela P. bekannt, wonach ihr „teuflischer Plan“ aufgegangen sei und auch Vorgesetzte darüber zufrieden seien. Die Finanzbeamtin wurde vom Kanzleramtschef von Olaf Scholz, Wolfgang Schmidt, immer wieder als Entlastungszeugin für Scholz angeführt.

47 Millionen Euro liefen 2016 in die steuerliche Verjährung. 2017 drohten 43 Millionen Euro zum Nachteil der Stadt zu verjähren. 2017 schritt aber das Bundesfinanzministerium ein und erteilte eine Weisung zum Einzug der Tatbeute.

Die Finanzbehörde – das Hamburger Finanzministerium – versuchte sich zu wehren und argumentierte, der Bank drohe bei Einzug der Tatbeute wirtschaftlicher Schaden. Das ist so, wie wenn ein Räuber gefasst wird, und sagt: „Ich kann meine Beute nicht rausrücken, sonst bin ich bankrott!“

Auch hätte die Warburg Bank eine Teilsumme zahlen können und der Rest wäre vor Gericht geklärt worden. Das ist ein gängiges Verfahren bei komplizierten Steuerfällen. Zumal die Warburg Bank mittlerweile bezahlt hat und nicht in die Insolvenz rutschte. Denn Olearius haftete auch mit seinem privaten Vermögen. Die steuerlich verjährte Tatbeute konnte später doch noch gesichert werden, weil ein Gericht und später auch der Bundestag auf gesetzlicher Grundlage die Einziehung von steuerlich verjährter Tatbeute in einem Strafprozess ermöglichten. Das war damals aber noch nicht absehbar.

Scholz traf sich insgesamt drei Mal mit Olearius. Das letzte Mal am Tag als die Weisung des Finanzministeriums in Hamburg per Post eintraf. Auf eine Anfrage der Linksfraktion in der Hamburger Bürgerschaft, ob es Treffen von Mitgliedern des Senats mit Vertretern der Warburg Bank zu Cum-Ex gegeben habe, antwortete der Hamburger Senat zunächst, es habe keine solchen Treffen gegeben.

2020 veröffentlichten Enthüllungsjournalisten jedoch einen Tagebucheintrag von Olearius über ein Treffen zwischen Scholz und dem Bankier im Jahr 2017. Dort wurde auch über Cum-Ex und die Steuerforderung gegen die Warburg Bank gesprochen. Ausweislich des Tagebuchs soll Scholz sich dabei die Auffassung von Olearius zu Eigen gemacht haben, wonach die Deutsche Bank, die Depotbank der Warburg Bank, bei den Cum-Ex-Geschäften zu Lasten der Warburg Bank geschont werden solle.

Stürmische Zeiten für den Bundeskanzler

Ich beantragte später eine Befragung von Olaf Scholz im Bundestag. Meine erste Frage an den Bundeskanzler im Bundestag am 4. März 2020 lautete: „Herr Scholz, haben Sie sich weitere Male mit Herrn Olearius getroffen?“ Er behauptete, es gäbe da nichts, was nicht bereits in der Presse stünde. Es kam zu einer weiteren Vernehmung in geheimer Sitzung im Juli, da Scholz sich auf das Steuergeheimnis berief. Danach wurden zwei weitere Treffen zwischen Scholz und Olearius bekannt. Erst in der dritten Sitzung im September 2020 räumte er die weiteren Treffen ein und berief sich auf Erinnerungslücken. Jedoch erinnerte der Kanzler immer viele Treffen mit Olearius – etwa bei offiziellen Anlässen – die Treffen zu Cum-Ex aber immer erst nach Vorhaltungen der Medien.

Nun haben Ermittler elektronische Postfächer und Kalender von Olaf Scholz sowie Mitarbeitern durchsuchen lassen, wie der Stern berichtet. Sie stießen etwa auf einen Austausch seiner Büroleiterin, der belegt, dass man dem später eingerichteten Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft Treffen mit Peter Tschentscher und Johannes Kahrs vorenthielt.

Im Bundestag fragte die heutige Familienministerin Lisa Paus am 4. März 2020 nach Kontakten mit Kahrs. Ich fragte am 9. September 2020 nach Kontakten mit Peter Tschentscher. Auf Paus antwortete Scholz, er könne dazu nichts sagen. Mir teilte er mit, er habe daran keine Erinnerung. Obwohl er zur Vorbereitung auf diese nunmehr dritte Befragung im Bundestag endlich seinen Kalender geprüft haben wollte. Auch vor wenigen Tagen fragten Journalisten in der Bundespressekonferenz zwei Mal nach einem Austausch mit Johannes Kahrs zu Warburg nach. Der Kanzler antwortete einmal nicht, das zweite Mal bemerkte er, es sei bereits alles dazu gegenüber dem Untersuchungsausschuss gesagt worden. Allerdings hat man diesem ja gezielt die Kontakte mit Kahrs vorenthalten.

Scholz wird am 19. August ein zweites Mal im Hamburger Untersuchungsausschuss vernommen. Enthüllungsjournalist Schröm, der die Olearius Tagebücher veröffentlichte, hat jedoch bereits angekündet, dass er in seinem Buch „Die Akte Scholz“, das im Oktober erscheint, weitere Erkenntnisse vorbringen wird und eine dritte Befragung des Kanzlers erwartet.

Es wurde zudem bekannt, dass die Ermittler davon ausgehen, dass mindestens ein Treffen von Scholz mit dem Cum-Ex-Bankier nachträglich aus dem Kalender von Scholz gelöscht wurde und die Finanzbeamtin die Verjährung der Tatbeute der Warburg Bank als teuflischen Plan würdigte. Es könnten stürmische Zeiten für den Bundeskanzler anbrechen.


Fabio De Masi war Mitglied des Deutschen Bundestages sowie des Europäischen Parlaments und machte sich dort bei der Aufklärung von Finanzskandalen – etwa um den Zahlungsdienstleister Wirecard – einen Namen. Der Finanzdetektiv wird zukünftig einmal im Monat Entwicklungen aus der „neuen Finanzwelt“ für Finance Forward kommentieren. Der Ökonom ist Fellow für digitale Finanzmärkte bei der Nichtregierungsorganisation Finanzwende und am Financial Innovation Hub der Universität Kapstadt (Südafrika). Er schreibt in seiner persönlichen Eigenschaft.

Cum-Ex erklärt:

Beim Cum-Ex-Aktien-Karussell verschieben institutionelle Investoren rund um den Dividendenstichtag, an dem Gewinne an die Aktionäre ausgeschüttet werden, untereinander Aktien, um den Staat über den Eigentümer der Aktie zu täuschen. Die Dividende fließt nur einmal, aber das Karussell dreht sich so schnell, dass es scheinbar mehrere Eigentümer der Aktie gibt.

Die Kapitalertragsteuer wird bei Ausschüttung von Dividenden an die Aktionäre vom Aktien-Unternehmen einbehalten und automatisch an das Finanzamt abgeführt (Abgeltungssteuer). Die Bank, die Aktien für die Aktionäre verwahrt, stellt diesen hierauf eine Bescheinigung über die geleistete Kapitalertragssteuer aus. Banken oder Fonds, die selbst Aktien besitzen und bei anderen Banken deponieren (den Depot-Banken) können sich mit dieser Bescheinigung unter bestimmten Voraussetzungen, die auf die Gewinne entrichtete Kapitalertragssteuer erstatten lassen, um eine doppelte Besteuerung zu vermeiden. Die Depot-Banken können aber nicht immer zweifelsfrei feststellen, ob ein Zufluss in Höhe der Dividende wirklich aus der Aktie resultiert oder nur ein Trick ist. So kann es zur mehrfachen Ausstellung von Bescheinigungen über die Zahlung der Kapitalertragssteuer kommen.

Bei Cum-Ex lassen sich die Investoren jedoch Kapitalertragssteuern erstatten, die sie nicht bezahlt haben. Anschließend wird die Tatbeute zwischen den Teilnehmern des Aktien-Karussells geteilt. Diese Geschäfte setzen verbotene Verabredungen voraus, da die einzelnen Schritte des Cum-Ex-Karussells ohne die Erstattung der Steuern aus der Staatskasse Verluste bringen.