Autor Sebastian Hotz aka „el Hotzo“ (Bild: Max Sand)

„Krypto beseitigt all die Dinge, die an Geld gruselig sind“

Sebastian Hotz erlangte als „El Hotzo“ mit satirischen, gesellschaftskritischen Beobachtungen große Bekanntheit. In seinem Debütroman „Mindset“ übt er Kritik am Neoliberalismus, zweifelhaften Erfolgscoaches und Selbstoptimierungswahn. Der folgende Auszug zeigt den IT-Angestellten Mirko, der sich auf einem Coaching-Seminar mit dem Titel „Genesis Ego“ von Maximilian Krach auf zwielichtige Art in die Welt der Kryptowährungen einführen lässt.

Zurück im Tagungsraum des Holiday Inn Express, geht es gestärkt in die zweite Hälfte des Seminars, die sich weniger mit dem ideologischen Unterbau von GENESIS EGO beschäftigt, sondern mit der praktischen Umsetzung desselben, der EGO-Teil beginnt. Gleich zu Beginn enthüllt Krach auf die ihm eigene dramatische Art, dass mit EGO nicht nur das Ego gemeint sei, sondern auch $EGO, eine gleichnamige Kryptowährung, die Krach selbst geschaffen hat, um die Mitglieder von GENESIS EGO nicht nur ideell, sondern auch finanziell bereichern zu können.

Krypto also, das gefällt Mirko. Die mystische Verbindung aus futuristisch anmutender Technologie, astronomischen Renditegarantien und der Magie der Marktwirtschaft hat ihn schon immer irgendwie interessiert. Ganz verstanden hat er das Prinzip natürlich nicht, es ist schon schwer genug, das Prinzip von Geld zu verstehen, von rein digitalem Geld ganz zu schweigen. Schon der Umstand, dass Mirko wöchentlich vierzig Stunden seiner Arbeitszeit eintauscht, damit seinem Sparkassenkonto am Monatsende eine bestimmte Zahl gutgeschrieben wird, und dass von dieser Zahl im Tausch gegen Wohnraum, Essen und Internetverbindung irgendein Betrag abgezogen wird, nur weil sich alle irgendwie einig sind, dass das ein fairer Deal wäre, beschäftigt ihn immer wieder und hält ihn mit größter Zuverlässigkeit vom Einschlafen ab. Lieber nicht damit beschäftigen, sondern einfach akzeptieren, Geld ist Geld, Dinge sind so, wie sie eben sind.

Und deshalb sind Kryptowährungen einfach nur Kryptowährungen. Also so was wie Geld, nur besser, digitaler, unabhängiger, dezentraler, Blockchain, die Zukunft eben. In Science-Fiction-Filmen zahlt schließlich auch niemand mit Münzen. Krypto, das weiß er, beseitigt all die Dinge, die an Geld gruselig sind, das mit der Inflation, der Kontrolle der Zentralbanken, Banken allgemein. So richtig großes Misstrauen hat Mirko in Banken nicht, der Sparkassenberater, den er kennt, seit ihm seine Mutter in der Grundschule das erste Sparbuch eröffnet hat, erscheint ihm nicht wie ein dringend zu eliminierendes Übel, aber kann ja nicht schaden. Banken schlecht, Zentralbanken sowieso und wer könnte jemals etwas gegen Unabhängigkeit, eine dezentrale Organisation und Transparenz haben? Mirko lernt, dass Krachs $EGO eine Kryptowährung ist, die nur Mitglieder von GENESIS EGO kaufen und anderen verkaufen können. $EGO verkörpert die Einheit dieser Gruppe, ist $EGO erfolgreich, sind sie alle erfolgreich, ist $EGO eine Enttäuschung, sind sie alle eine. Es geht bei EGO also einerseits um das eigene Ego, aber auch um $EGO und damit um ihre Gemeinschaft, das mag am Anfang verwirrend klingen, aber spätestens beim nächsten Seminar, da ist sich Mirko sicher, wird er die Sache schon verstehen.

Um sicherzugehen, dass die Gruppe den Unterschied zwischen EGO als Säule von GENESIS EGO und $EGO, der Kryptowährung, auch wirklich begreift, schnalzt Krach jedes Mal, wenn er „$EGO“ sagt, dort leise mit der Zunge, wo das Dollarzeichen geschrieben steht.

Um mit $EGO zum gemeinsamen Reichtum zu kommen, ist nicht nur Mirkos finanzielles Investment, sondern in erster Linie seine Begabung als Verkäufer gefragt. Denn noch dümpelt die eigene Kryptowährung von GENESIS EGO bei einem Kurs, der für Laien wie nichts erscheint, für Fachmänner aber beinahe unbegrenztes Wachstumspotenzial offenbart. Als Krach den Kursverlauf des Coins an die Wand projiziert, prangen viele Nullen hinter dem Komma des aktuellen Dollarwerts, 0,000000047$ oder so, auf eine Null mehr oder weniger kommt es da nicht mehr an. Krach stellt seinem Publikum in Aussicht, dass sich dieser Wert innerhalb kürzester Zeit vertausendfachen, ja sogar vermillionenfachen könnte, wenn die hier Anwesenden Kraft ihres Wolftums die Nachfrage nach $EGO zum Anstieg zwingen würden.

Mirko nickt, als Krach damit fortfährt, ihren gemeinsamen Weg zu unendlichem Reichtum zu skizzieren. Prinzipiell müssten nur alle hier Anwesenden je vier Personen davon überzeugen, mindestens ein paar Hundert Euro in $EGO zu investieren, dann wären sie schon über fünfzig Investoren; wenn die Angeworbenen dann jeweils noch mal je vier Interessenten anwerben könnten, wären sie schon über dreihundert, einen Schritt weiter schon tausend, bald viertausend. Spricht sich das Geheimnis der Wunderwährung $EGO nur weit genug herum, würden innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende ihr Geld in sie stecken – und diejenigen, die hier im Raum sitzen, noch reicher machen, als sie sowieso schon sind.

„Wenn ihr diesen Raum heute verlasst, dann dürft ihr keine Gelegenheit mehr verstreichen lassen. Jeden Menschen, den ihr trefft, müsst ihr dazu bringen, wenigstens ein paar Euro in $EGO zu investieren. Das seid ihr mir, aber ganz besonders euch selbst schuldig.“

Die Gruppe applaudiert mit der abebbenden Begeisterung eines Tagungsraums am Nachmittag, eine allgemeine Müdigkeit scheint sich breitzumachen. Mirko selbst ist erschöpft wie schon lang nicht mehr, der erste Tag vom Rest seines Lebens ist ein anstrengender, Stunden der Aufregung und Konzentration fordern ihren Tribut. Als Krach seine Präsentation beendet und den Beamer abschaltet, entfährt Mirko ein leises Stöhnen der Erleichterung, er hatte das laute Surren der Lüftung des Geräts nicht aktiv wahrgenommen und doch ist sein Abschalten eine willkommene nervliche Entlastung. Mirkos müde Augen beobachten Krach dabei, wie er zum ersten Mal heute auf dem Stuhl auf seiner Seite des Raumes Platz nimmt, einen kurzen Blick auf sein Handy wirft und in großer Zufriedenheit mit dem Displayinhalt ein kurzes Lächeln in die Runde wirft. Die Rollenspiele werden auf die nächste Sitzung verschoben, ab jetzt sei die Zeit für Fragen und offene Diskussion, danach ist Feierabend. Feierabend. Aus Krachs Mund klingt dieses Wort seltsam, Mirko will nicht, dass dieser Tag aufhört und doch sehnt er sich nach seinem Zuhause.

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14.57, Gott sei Dank, er liegt gut in der Zeit, spätestens in ein bis zwei Stunden kann er auch diesen Seminartag für beendet erklären und sich auf den Weg nach Hause machen. Er war zäh in den Tag gestartet, hatte seine Panikattacke aber ebenso gut überwunden wie die Planlosigkeit der Mittagspause. Ab jetzt würde er sich einfach nur noch den Fragen der Seminarteilnehmer stellen müssen, aber das ist seine leichteste Übung, er ist schließlich Consultant und ein Consultant hat zu consulten, das ist ja der eigentliche Sinn der Sache.

Die Fragen, die ihm gestellt werden, sind die gleichen wie immer. In den allermeisten Fällen geht es weniger darum, eine tatsächliche Frage zu stellen, vielmehr darum, den eigenen Erfolg auf möglichst charmante Art zur Schau zu stellen.

„Ist gerade eine gute Zeit, um ein Penthouse in München zu kaufen?“

„Lohnt sich ein Lamborghini Huracán EVO, wenn man schon einen Ferrari Roma hat?“

„Sind PATEK die neuen ROLEX?“

„Wirken Manschettenknöpfe protzig oder beweisen sie Stil?“

„Goldene oder silberne Uhrengehäuse?“

„Hausmeisterei für die vermieteten Wohnungen fest anstellen oder von einem Dienstleister übernehmen lassen?“

„Wochenendhaus in Italien oder Südfrankreich?“

Keine dieser Fragen bedarf einer ernsthaften Antwort und doch werden sie leidenschaftlich diskutiert, denn auch die Antwortenden möchten zeigen, wie sehr sie mit den jeweiligen Lebenssituationen vertraut sind. Zu jedem noch so speziellen Thema scheinen alle irgendeine Anekdote zu haben und Maximilian lässt sie nur allzu gerne gewähren. Das als Diskussionsrunde getarnte Schaulaufen tut der Gruppendynamik gut, wenn die Stimmen lauter werden, greift er mit einem Machtwort ein. Nur der Neue hält sich mit Diskussionsbeiträgen zurück, meldet sich kein einziges Mal zu Wort und verhält sich auch ansonsten recht unauffällig. Immer wieder schaut er in Maximilians Richtung, um sofort wegzuschauen, sobald sich ihre Blicke treffen.

Vor den Fenstern des Tagungsraums mindert aufziehender Nebel das ohnehin schwache Tageslicht, die Leuchtstoffröhren an der Zimmerdecke müssen das immer spärlicher werdende Tageslicht unterstützen, um die Szenerie zu beleuchten, in der gerade leidenschaftlich über die Möglichkeit der Wertanlage in einer hauseigenen Whisky-Bar diskutiert wird, als Maximilian gelangweilt sein Handy aus der Tasche nimmt, um ziellos darauf herumzuscrollen. Seine offen vorgetragene Langeweile wird bemerkt, nach und nach verstummt der Raum. Als endlich Stille herrscht, grinst Maximilian belustigt in die Runde und erhebt sich wieder von seinem Stuhl.

„Meine Herren, es ist Zeit, den heutigen Tag zu beenden, vor mir liegen noch einige Stunden Autobahn, vor einigen von euch, wie ich weiß, sogar noch eine Flugreise … lasst uns also die Fragen mal mitnehmen oder aufs nächste Seminar verschieben … vielen Dank für euer Kommen, Termin und Ort des nächsten Seminars werden bekannt gegeben, sobald ich mir ein bisschen Zeit im Kalender freigeschaufelt habe, die Märkte waren selten so volatil wie jetzt, aber das muss ich euch ja nicht erzählen. Bis bald!“

So euphorisch und perfekt inszeniert der Auftakt des Tages auch war, so ernüchternd und unterwältigend ist sein Ende. Kaum effektvoller als nach dem Ende einer Unterweisung über Bürosicherheit erheben sich die Seminarteilnehmer aus ihren Stühlen und verlassen einer nach dem anderen den Seminarraum. Der Tag ist vorbei, das Werk vollbracht. Bis zum nächsten Seminar in einigen Wochen wird die Kommunikation mit seiner Gruppe ausschließlich digital und damit deutlich kontrollierbarer ablaufen als der heutige Tag.

Der letzte Seminarteilnehmer verschwindet im Flur, die Tür fällt hinter ihm zu, Maximilian erlaubt sich ein tiefes Seufzen und seinem Körper das Annehmen einer bequemen Haltung. Fünf Minuten entspanntes Checken seiner Social-Media-Kanäle gönnt er sich und seinen bis gerade eben noch bis zum Zerreißen gespannten Nerven, dann packt er seine Sachen zusammen, den Laptop in die Tasche, bringt die Stühle wieder in ihre ursprüngliche Anordnung, blickt ein letztes Mal durch den Raum und macht sich auf den Weg. Zurück in den RE6, zurück nach Gütersloh.

Als die AirPods wieder in Maximilians Ohren stecken und die Rollen seines Koffers wieder durch den weichen Teppich der Lobby pflügen, bedeutet ihm der Rezeptionist, doch bitte kurz stehen zu bleiben. Betont widerwillig kommt Maximilian dieser Bitte nach. Das Anliegen des Rezeptionisten ist ein professionelles, die Rechnung für die ganztägige Nutzung des Tagungsraums muss beglichen werden. Aus seiner Jackentasche kramt Maximilian sein SlimWallet hervor, ein Produkt, das die klobigen Geldbeutel vergangener Tage durch ein exakt kreditkartengroßes Case ersetzt, in dem sich Platz für Scheine, Karten, aber eben nicht für Kleingeld befindet. Ausgestreckt zwischen dem Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand, hält Maximilian dem Rezeptionisten eine seiner Kreditkarten entgegen, die dieser dankend annimmt, um sie mit dem Rechnungsbetrag in Höhe von 219,95€ zu belasten.

Das folgende empörte Piepen des Kartenlesegeräts überrascht Maximilian deutlich weniger als den Rezeptionisten. Belastung nicht möglich, Karte bitte entfernen. Mit einem entschuldigenden Blick entfernt dieser die Karte, wischt mit dem Daumen über den goldenen Chip und versucht erneut, das Lesegerät und Maximilians Karte zur Kooperation zu überreden, nur um vom Warnton des Geräts, der jetzt irgendwie beleidigter klingt als beim ersten Mal, erneut darüber informiert zu werden, dass diese Karte nicht belastbar ist. Für den Rezeptionisten ist das unerklärlich, Maximilian sieht nicht aus wie jemand, dessen Karte abgelehnt wird, dafür aber wie jemand, der mindestens ein weiteres Zahlungsmittel zur Verfügung hat.

Auch die nächste und übernächste Karte werden vom laut protestierenden Gerät abgelehnt, der Fall ist klar, das Gerät muss defekt sein. Ein Zweifel an Maximilians Zahlungsfähigkeit verbietet sich, niemand, dessen Karten nicht belastet werden können, trägt eine PATEK am Handgelenk. Der Rezeptionist startet das Gerät der Form halber neu, bemüht sich dann geflissentlich um eine alternative Zahlungsmethode, bietet dem immer noch wortlosen Maximilian erst halbherzig eine Barzahlung, interpretiert dessen Schweigen dann aber zu Recht als kategorische Ablehnung. Wölfe zahlen nicht mit Scheinen.

„Rechnung dann? Machen wir hier eigentlich ungern, aber …


Aus: Sebastian Hotz Mindset

© 2023 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.