Die Journalistin Camila Russo hat ein Buch über die Entstehungsgeschichte der Blockchain Ethereum geschrieben (Bild: PR)

Der Ethereum-Mythos: In einer kleinen Airbnb-Wohnung entstand die Vision

Vor genau fünf Jahren ging die Blockchain Ethereum online. In ihrem Buch „The Infinite Machine“ erzählt die ehemalige Bloomberg-Journalistin Camila Russo die Entstehungsgeschichte des ambitionierten Projekts.

Es ist Februar 2014, acht Männer sitzen in einer Zweizimmerwohnung in der Nähe von Zürich. Richtig gut kennen sie sich nicht. Sie haben noch keinen allzu konkreten Plan davon, was sie gemeinsam erschaffen werden und auch nicht, wer welche Rolle übernehmen wird. Aber hier treffen sie eine richtungsweisende Entscheidung.

Es ist die Entstehungsgeschichte von Ethereum, auf deren Grundlage die später zweitgrößte Kryptowährung der Welt laufen wird. Zur Zeit des großen Krypto-Booms liefen neun von zehn aller ICOs auf Ethereum, schätzt die ehemalige Bloomberg-Journalistin Camila Russo. „Ethereum ist die Blockchain hinter all der Krypto-Verrücktheit von 2017“, sagt sie.

Russo hat sich intensiv mit der Erfindung von Vitalik Buterin beschäftigt und nun ein Buch über Ethereum geschrieben. Es soll die Anfänge des Projekts nacherzählen, das am 30. Juli 2015, also heute vor genau fünf Jahren, live ging. Finance Forward hat mit der Journalistin über ihre Sicht auf die Blockchain und ihr Potential gesprochen.

„Ethereum ist ambitionierter als Bitcoin“

In ihrem Buch beschreibt Russo, die mit Hunderten Gesprächspartnern aus der Ethereum-Community – darunter auch die Gründungsmitglieder – gesprochen hat, die Zeit so: „Sie ziehen von einer Airbnb-Wohnung zur nächsten, der Ort, an dem sie jedoch den längsten Aufenthalt haben, ist eine Zweizimmerwohnung dreißig Autominuten südlich von Zürich. Tagsüber tummeln sie sich um einen kleinen Tisch bei der Küche, der fast komplett mit Laptops bedeckt ist. Sie benutzten jeden verfügbaren Stuhl im Haus, einschließlich einer kleinen Bank, die sie aus dem Wohnzimmer mitbrachten, und kauern sich dort zusammen, wobei sich die Ellbogen berührten. Sie arbeiteten an der Website und besprechen Dinge wie die Struktur der zukünftigen Organisation, die Öffentlichkeitsarbeit in der Community und die Kommunikation bis hin zum Crowdsale.“

Wortführer in der Schweiz war damals Vitalik Buterin, der die Idee bereits 2013 zu Papier gebracht hatte, als er gerade 19 Jahre alt war. Er wollte eine Plattform bauen, auf der die Verwaltung von dezentralen Anwendungen in einer eigenen Blockchain möglich sein würde. Eine Art neues, demokratisiertes Internet, ohne Zensur, ohne Datenabgabe an Drittparteien.

Es war ein unkonkreter Pitch, doch das war so gewollt. Denn Buterin setzte darauf, dass jeder Mensch auf Ethereum das entwickeln kann, was er möchte. „Bitcoin sollte die Finanzwelt dezentralisieren und demokratisieren. Die Vision hinter Ethereum ist, genau das für alle Lebensbereiche bieten zu können“, erklärt Russo. „Es ist als Projekt also nochmal wesentlich ambitionierter als Bitcoin.“

Gemeinsam mit sieben weiteren Blockchain-Enthusiasten – Mihai Alisie, Anthony Di Iorio, Charles Hoskinson, Amir Chetrit, Gavin Wood, Jeffrey Wilcke und Joseph Lubin – einigte sich Buterin darauf, Ethereum aus dem Schweizer Ort Zug heraus aufzubauen. Alternativen wären Singapur, die Niederlande und Kanada gewesen, doch die Schweiz hatte damals besonders viel Wert daraufgelegt, innovative Tech-Unternehmen anzuziehen. Mittlerweile wird Zug auch Crypto Valley genannt, in Anlehnung an das Silicon Valley.

Kann es als gewinnorientiertes Unternehmen funktionieren?

Besonders die ersten Monate in der Schweiz waren die prägendste Zeit für das Projekt, sagt Russo. Die einzelnen Positionen der Gründer waren noch nicht festgelegt – und niemand bekam ein Gehalt. Die Krypto-Jünger arbeiteten lediglich für das ungeschriebene Versprechen, etwas von der Kryptowährung zu bekommen, die bei einem Crowdsale aufgebracht werden würde. Die Teammitglieder bezahlten Miete und teuere Anwälte aus den Ersparnissen und benutzten ihre eigenen Kreditkarten zur Bezahlung der täglichen Ausgaben.

Gleich zu Beginn mussten sie eine Entscheidung treffen, die die Zukunft des Projekts bestimmen würde. Sollte die Krypto-Währung in einem gewinnorientierten Unternehmen entstehen – oder aus einer Nonprofit-Stiftung heraus? „Sie mussten sich entscheiden, ob sie für ihre Vision eines neuen Internets Google oder Mozilla sein wollten, ein Unternehmen mit zentralisierter Verwaltung und vorhersehbaren Einnahmen oder eine Stiftung, die Entwickler aus der ganzen Welt dabei unterstützt, Ethereum dezentral und organisch aufzubauen“, schreibt Russo in ihrem Buch.

Das Team diskutierte heftig, schließlich ging es um die Identität des Projektes, in das sie zum Teil viel Geld und viel Energie steckten. Die dahinterstehende Frage lautete: Kann ein gewinnorientiertes Unternehmen wirklich ein komplett dezentral-organisiertes Produkt aufbauen? Immerhin sollte Ethereum ein demokratisches Internet werden. Kann ein Unternehmen das bauen – oder ist es glaubwürdiger und realistischer als Stiftung? Letzteres wird jedenfalls mit dem Begriff „gemeinnützig“ in Verbindung gebracht. Also genau das, was Ethereum sein sollte.

Eine der großen Blockchain-Hoffnungen

Nach vielen Streits und Diskussionen, die Russo in ihrem Buch detailliert beschreibt, kam es schließlich zu einer Entscheidung. „Ethereum wird ein gemeinnütziges und Open-Source-Projekt sein“, sagt Buterin dem Rest des Teams sechs Monate später in Zug. Und so kam es dann auch, obwohl einige der Mitgründer Ethereum in der Folge verließen. Am 30. Juli 2015 ging die Plattform Ethereum dann online. Sie ist seither ein wichtiger Bestandteil der Krypto-Welt. Buterin ist inzwischen der einzige aus dem Gründungsteam, der noch an Ethereum aktiv beteiligt ist, alle anderen haben die Plattform verlassen, zum Teil um Konkurrenzprodukte zu bauen.

Die Kernessenz des Projektes, die Russo versucht, in ihrem Buch aufzufangen: „Es gibt einen alternativen Weg, die Dinge zu organisieren. Einen, bei dem die Menschen mehr Macht über ihre eigenen Finanzen, ihre eigenen Daten haben.“

Ihr Buch „The Infinite Machine“ hält sich nicht mit den technischen Details auf, es ist keine trockene Nacherzählung über die Entstehung von Blockchain-Protokollen. Es erzählt die Geschichte einiger junger Menschen, die mit ihrer Idee eine grundlegende Veränderung – und auch Verbesserung – vieler Aspekte unseres Lebens ermöglichen wollten. Und wie sie darüber stritten.

Inzwischen ist Ethereum für viele Enthusiasten das vielversprechendste Blockchain-Projekt. Mehr als 200.000 Entwickler arbeiten weltweit an Vorhaben, die mit Ethereum arbeiten, schätzt Russo. „Ganz egal, ob es in ein paar Jahren noch so existiert oder nicht, Ethereum hat schon heute große technische Fortschritte vorangetrieben“, so ihre Bilanz.

Das Buch „The Infinite Machine: How an Army of Crypto-hackers Is Building the Next Internet with Ethereum“ von Camila Russo ist am 14. Juli im US-Verlag Harper Collins am erschienen.